Impulspapier zum Koalitionsvertrag vom Beirat der ­Bundesstiftung Frühe Hilfen.

Der Beirat der Bundesstiftung Frühe Hilfen und des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) hat das vorliegende Impulspapier in seiner virtuellen Sitzung am 09. 03. 2022 verabschiedet. Prof. Dr. Ute Thyen, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, ist Vorsitzende des Beirates, in dem 43 Vertreter aus verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, der Schwangerschaftsberatung, Frühförderung und Familienbildung, sozialen Grundsicherung und den Bundesländern und Kommunen ehrenamtlich mitwirken.

Frühe Hilfen haben zum Ziel, dass für jedes Kind eine gesunde Entwicklung und ein gewaltfreies Aufwachsen durch ein Unterstützungssystem ermöglicht wird, das bundesweit in gleicher Qualität vorhanden ist. Hierzu sollen Kinder und ihre Eltern möglichst frühzeitig im Leben erreicht werden. Deshalb adressieren die Frühen Hilfen alle Eltern ab der Schwangerschaft und Familien mit Kindern bis 3 Jahre. Die Hilfen sind niedrigschwellig und erleichtern damit den Zugang. Um auch psychosozial belastete Familien auf leicht zugänglichen und gleichzeitig vielfältigen Wegen zu erreichen, setzen sich die Frühen Hilfen in koordinierten lokalen Netzwerken aus Angeboten verschiedener Sektoren zusammen, insbesondere aus der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, der Frühförderung und der Schwangerschaftsberatung.

Mittel reichen bei Weitem nicht aus

Der Beirat der Bundesstiftung Frühe Hilfen und des NZFH sieht im Koalitionsvertrag zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine bessere Versorgung der Zielgruppen Früher Hilfen:

"Die Mittel der ‚Stiftung Frühe Hilfen‘ werden wir dynamisieren."(S. 99)

Der Beirat begrüßt, dass im Koalitionsvertrag auf den finanziellen Bedarf in den Frühen Hilfen eingegangen wird. Allerdings reicht eine Dynamisierung der Mittel allein nicht, um den Bedarf an Frühen Hilfen zu decken. Daher weist der Beirat darauf hin, dass die derzeit zur Verfügung stehenden Mittel schon heute keine bedarfsdeckende Versorgung mit Angeboten der Frühen Hilfen gewährleisten; dies betrifft insbesondere den erfolgreichen Einsatz von Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegenden (FGKIKP) in den Familien. Deutschlandweit kann der Bedarf an diesem Angebot in weniger als jeder dritten Kommune gedeckt werden, weil die notwendigen finanziellen Mittel langfristig fehlen: Etwa jede fünfte Kommune benötigt hierfür Mittel in mehr als doppelter Höhe als bisher. Besonders eklatant ist die Unterdeckung in den ostdeutschen Bundesländern. Daher unterstützt der Beirat eine Reprise der BR-Drs. 623/19 mit dem Ziel einer deutlichen Erhöhung der Bundesmittel für die Bundesstiftung Frühe Hilfen.

Situation hat sich weiter verschärft

Sozialindikatoren weisen darauf hin, dass die Zahl der Familien, die Unterstützung benötigen, steigt. Damit geht auch ein erhöhter Bedarf an Frühen Hilfen einher. So ist zwischen 2010 und 2019 die Armutsgefährdungsquote von Kindern gestiegen, obwohl dies konjunkturstarke Jahre waren. Familien hatten somit keine angemessene Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung. In Zeiten der Pandemie scheint sich die Situation von Familien weiter verschärft zu haben. Auch die Versorgung von ressourcenarmen Familien in strukturschwachen Regionen wird in Zukunft eine noch größere Herausforderung sein. Hinzu kommt, dass mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) die Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen zuständig werden wird (inklusive Lösung), d. h., dass perspektivisch durch die Frühen Hilfen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe auch alle Eltern mit behinderten Kindern verstärkt adressiert werden sollen.

"Kindergrundsicherung – Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen." (S. 100)

Der Beirat begrüßt das Vorhaben der Regierung, Kinderarmut in Deutschland aktiv zu bekämpfen. Die Folgen von Armut sind für Kinder häufig tiefgreifend und beeinflussen langfristig die gesunde Entwicklung von Kindern und schränken ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe erheblich ein. Bereits von Geburt an wirkt sich die soziale Benachteiligung von Familien negativ auf die Entwicklungs- und Zukunftschancen von Kindern aus. Je früher Familienarmut daher bekämpft wird, desto wirkungsvoller können Armutsfolgen für Kinder minimiert werden. Kinderarmut ist überwiegend strukturell verursacht und weniger Ausdruck individuellen Scheiterns.

Gesamtstrategie für mehr Teilhabe fehlt bislang

Dazu gehört, zunächst die materielle Basis von Familien und Kindern zu stärken, d. h., eine tatsächliche Sicherstellung des sächlichen und soziokulturellen Existenzminimums für alle Familien zu gewährleisten. Um Kinder- und Familienarmut wirkungsvoll und nachhaltig zu bekämpfen, braucht es aber mehr. Prekäre Lebenslagen benachteiligen Menschen in allen Lebensbereichen und gehen mit Ausgrenzung und Diskriminierung einher. Dies zeigt sich insbesondere bei Alleinerziehenden und ihren Kindern. Es bedarf daher einer politischen, ressortübergreifenden Gesamtstrategie (Health in all policies) und Zusammenarbeit auf allen föderalen Ebenen: (Aus-)Bildung, Integration, Gesundheit, Familie, Arbeit, Soziales und Wohnen. Die Gesamtstrategie sollte die nachhaltige Verhinderung und den Abbau von Armutslagen in Familien zum Ziel haben, damit Kindern eine reale Chance an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht und Armut nicht zu einer intergenerationalen Spirale wird. Dies würde einer guten Umsetzung der EU-Kindergarantie entsprechen. Um die Wirksamkeit der Gesamtstrategie zu überprüfen, ist eine regelmäßige Evaluation ratsam (vgl. "Frühe Hilfen für Familien in Armutslagen. Empfehlungen", Beitrag des NZFH-Beirats zu finden unter https://www.fruehehilfen.de/das-nzfh/beirat/beirat-kompakt/).

"Wir wollen die Kinderrechte ausdrücklich im Grundgesetz verankern und orientieren uns dabei maßgeblich an den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention." (S. 98)

Der Beirat begrüßt es, dass die regierungsbildenden Parteien in dieser Legislaturperiode das Vorhaben, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, weiterverfolgen. Die UN-Kinderrechtskonvention wurde 1992 von Deutschland ratifiziert und hat in der Bundesrepublik den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Sie bildet für die Frühen Hilfen einen verbindlichen Orientierungsrahmen. Allerdings gibt es noch immer Umsetzungsdefizite. Die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie haben sehr deutlich gezeigt, dass die Rechte der Kinder auf Bildung und gesunde Entwicklung nicht immer im Mittelpunkt staatlichen Handelns während der Pandemie standen.

Rechte von Kindern endlich im Grundgesetz verankern!

Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, die Rechte der Kinder im Grundgesetz zu verankern, damit sie zukünftig im Zentrum von Entscheidungen der Politik, Verwaltung und Rechtsprechung stehen.

"Als Lehre aus der Pandemie bedarf es eines gestärkten Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), der im Zusammenspiel zwischen Bund, Ländern und Kommunen sichergestellt wird." (S. 83)

Der Beirat begrüßt die Stärkung des ÖGD und damit insbesondere des kinder- und jugendärztlichen und multiprofessionellen Dienstes im ÖGD (KJGD).

Durch die systemübergreifende Zusammenarbeit in den kommunalen Netzwerken Frühe Hilfen konnte die eindringliche Erfahrung gemacht werden, dass insbesondere in der Versorgung von vulnerablen und vielfach belasteten Gruppen der ÖGD als Garant für einen kommunalen bevölkerungsbezogenen Ansatz ein wichtiger und grundlegender Akteur ist, um die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Der Beirat empfiehlt dringend, den KJGD im ÖGD für die gemeinsame Planungs- und Koordinierungsstruktur im Rahmen des ÖGD-Pakts angemessen personell und sachlich auszustatten. Darauf bezogen sich bereits die Empfehlungen der Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMA) "Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona", die es dringend umzusetzen gilt.

"Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht in einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit auf, in dem die Aktivitäten im Public-Health-Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt sind." (S. 83)

Das neue Bundesinstitut breit ausrichten

Da aus dem Koalitionsvertrag nicht deutlich wird, wie das zukünftige Bundesinstitut, in das die BZgA aufgehen soll, ausgestaltet werden soll, plädiert der Beirat dringend dafür, dass ein system- und sektorenübergreifendes Arbeiten, wie es auch bisher der Fall war, weiterhin ausdrücklich in diesem neuen Institut erhalten bleibt. Nach 15 Jahren Frühe Hilfen auf Bundesebene ist eine "lesson learned", dass es staatliche Strukturen braucht, die sich weniger an den Systemen als vielmehr an den Bedürfnissen und Bedarfen der Menschen, für die sie da sind, orientieren und miteinander zusammenarbeiten.

"Wir setzen das Nationale Gesundheitsziel "Gesundheit rund um die Geburt" mit einem Aktionsplan um." (S. 85)

Die Umsetzung des Gesundheitsziels "Gesundheit rund um die Geburt" im Rahmen eines Aktionsplans ist ein wichtiger Schritt, um die dort mit vielen Partnern konsentierten Handlungsstränge verbindlich umzusetzen. Das Gesundheitsziel umfasst die wichtigen Phasen von Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und das erste Jahr mit einem Neugeborenen. Die besondere Bedeutung dieses Zeitfensters für die kindliche Entwicklung ist durch zahlreiche Studien belegt. Die positive Bewältigung der Herausforderungen, die mit dieser Lebensphase verbunden sind, stellt die Weichen für einen guten Start in die Elternschaft und hat damit auch Auswirkungen auf das weitere Leben des Kindes.

Status von Fachkräften verbessern

Der Fachkräftemangel macht sich auch in den Frühen Hilfen durch das Fehlen von Familienhebammen, aber auch der Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegenden bemerkbar. Darüber hinaus werden Familienhebammen zunehmend angefragt, auch die originäre Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung mitzuübernehmen, was zu erheblichen Schwierigkeiten an den Schnittstellen von SGB V und SGB VIII sowohl zu Lasten der Fachkräfte, aber auch der Gebärenden führt. Hier stehen Fragen der Arbeitsbedingungen, der soziallrechtlichen Absicherung, der Flexibilität zwischen festem Beschäftigungsverhältnis und Freiberuflichkeit und dem Schnittstellenmanagement zwischen Leistungen des SGB V und SGB VIII im Vordergrund. Der Beirat empfiehlt, dass das Gesundheitsziel in seiner vollen Breite im Aktionsplan Berücksichtigung findet. Damit kann das präventive Potenzial der vor- und nachgeburtlichen Betreuung sehr viel stärker genutzt werden. Bei der Wiederaufnahme des Prozesses sollte eine breite Beteiligung der Berufsverbände berücksichtigt werden.

"Kurzfristig sorgen wir für eine bedarfsgerechte auskömmliche Finanzierung für die … Geburtshilfe" (S. 86)

Der Beirat begrüßt, dass eine kurzfristig eingesetzte Regierungskommission Empfehlungen vorlegen soll für eine Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung für die Kinder- und Jugendmedizin, Notfallversorgung und Geburtshilfe, die das bisherige System um ein nach Versorgungsstufen (Primär-, Grund-, Regel-, Maximalversorgung, Universitätskliniken) differenziertes System erlösunabhängiger Vorhaltepauschalen ergänzt. Um den niederschwelligen Zugang ins System der Frühen Hilfen zu verbessern, sollten Lotsensysteme an Geburtskliniken und Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin rechtlich verankert und regelhaft finanziert werden. Eine von der GMK 2021 eingesetzte AG hat den Auftrag zu prüfen, ob Leistungen dieser Lotsensysteme mittel- und langfristig als Aufgabe der Krankenhäuser gesetzlich abgesichert werden können.

"Im Anschluss an das Corona-Aufholpaket werden wir die Situation für Kinder und Jugendliche mit einem Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit schnell und wirksam verbessern." (S. 98)

Der Beirat begrüßt, dass die neue Regierung mit einem weiteren Förderprogramm die sozialen Folgen für Kinder aufgrund der Pandemie abmildern will. Obwohl Kinder nicht in erster Linie aus medizinischen Gründen von der Pandemie betroffen waren, weisen bereits erste Studien daraufhin, dass die psychosozialen Folgen für einen nicht geringen Teil der Kinder weit über die Pandemie-Phase hinausgehen und die gesunde Entwicklung der Kinder nachhaltig beeinträchtigen können. Auch hier hat die COVID-19-Krisensituation wie durch ein Brennglas die ungleiche Verteilung familiärer Ressourcen sichtbar gemacht: Während es vielen Familien in der ersten Phase der Pandemie gut gelungen ist, ihren Alltag den Krisenbedingungen flexibel anzupassen, kamen Familien, die schon unter normalen Bedingungen viel Kraft aufbringen müssen, um ihr Familienleben zu gestalten, an die Belastungsgrenzen. Gleichzeitig konnten Unterstützungsnetzwerke Familien mit Hilfebedarf, insbesondere solche mit Familienangehörigen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen nicht mehr wie gewohnt auffangen. Diese Gruppe ist besonders zu berücksichtigen. Daher ist es wichtig, die Zielgruppen der Frühen Hilfen auch weiterhin mit dem Zukunftspaket zu unterstützen.

Das Papier enthält eine Ergänzung aus aktuellem Anlass aufgrund des Krieges in der Ukraine.



Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Ute Thyen
Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin
Präsidentin
Chausseestraße 128/129
10115 Berlin
Tel.: 0 30/4 00 05 88-6
E-Mail: geschaeftsstelle@dgspj.de
Internet: www.dgspj.de

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (4) Seite 320-323