"Chorona-Chronik: Gruppenbild ohne (arme) Kinder" so lautet der Titel einer aktuellen Streitschrift. Ziel ist es, Ankerpunkte für einen anderen Umgang und für sozial inkludierende Handlungsstrategien durch Politik und Praxis zu nennen.

Im Rahmen des Programmes "Präventionsketten Niedersachsen: Gesund aufwachsen für alle Kinder!" wurde eine Streitschrift herausgegeben mit der Intention, Kinder und Jugendliche – und insbesondere arme und weitere sozial benachteiligte – mehr in den Mittelpunkt des Corona-Geschehens zu rücken, als dies in den vergangenen Monaten der Fall war.

Dazu wurde komprimiert und auch grafisch eine Chronologie von Krisenmaßnahmen des Bundes erstellt mit dem Fokus auf diese Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Fehlsteuerungen werden genannt und fachliche Impulse gegeben, damit die Kinder-, Jugend- und Familienperspektive mehr und anders in die Krisenbewältigung einfließen kann. Für die Corona-Chronik wurden die ersten Monate des pandemiebedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 analysiert.

Corona: eine weltweite Pandemie und die Folgen

Es war nicht absehbar, welche tiefgreifenden Änderungen und Einschränkungen auf die Bevölkerung zukommen würden, als ab Januar 2020 erstmals über die neue Infektionskrankheit COVID-19 in China berichtet wurde. Die Erkrankungen am Coronavirus SARS-CoV-2 entwickelten sich zu einer weltweiten Pandemie, deren Eindämmung und Bekämpfung alle Länder vor enorme Aufgaben stellte. In Deutschland kommt es zu weitreichenden Reglementierungen des privaten, sozialen, wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens (Lockdown). Damit verbunden sind staatliche Maßnahmen, welche die Wirtschaft unterstützen und die Bevölkerung sozial absichern sollen. Im Verlauf des Geschehens rücken einzelne gesellschaftliche Gruppen und Themen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Perspektive der 13,5 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren – insbesondere der von Armut Betroffenen – fehlt fast komplett. Im Zentrum des politischen Handelns dieser Phase steht vieles, aber nicht die junge Generation. Vielmehr wird die politische Debatte über notwendige Maßnahmen fast vollständig aus der Perspektive von Erwachsenen geführt. Die Bedürfnisse der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen, die besonders hohen Belastungen ausgesetzt sind, sind dagegen kaum Thema.

Ziel der Streitschrift

Die Intention der Streitschrift war und ist, Kinder und Jugendliche – und insbesondere arme und weitere sozial benachteiligte – mehr in den Mittelpunkt des Corona-Geschehens zu rücken. Das Ziel ist, Ankerpunkte für einen anderen Umgang und für sozial inkludierende Handlungsstrategien durch Politik und Praxis zu nennen. Ziel ist nicht, die grundsätzliche Tatsache der Lockdowns zu kritisieren. Die Daten basieren auf einer Recherche zwischen März und August 2020, in die rund 60 Publikationen (wissenschaftliche Untersuchungen, Stellungnahmen und Positionspapiere, Reportagen, Praxis- sowie Presseberichte) eingeflossen sind. Dabei werden Fehlsteuerungen genannt und fachliche Impulse gegeben.

Im Fokus der Analyse stand das Thema, was Corona für Kinder und Jugendliche in Armutslagen und ihren Familien – als besonders vulnerable Gruppen – bedeutet und was diese besonders benötigen. Als Ergebnis davon werden allerdings nicht Forderungen formuliert, sondern wegweisende Fragen gestellt, die überzeugende Antworten erfordern: "Wer müsste und wer darf in Corona-Zeiten (zuerst) in die Kita?" "Schafft Schule unter digitalen Vorzeichen im Endeffekt (noch) mehr Bildungsungleichheit?" "Warum ist die soziale Infrastruktur, auf die alle und alles zurückgreifen (müssen/muss), nicht systemrelevant? Sie sind nach einem Jahr Pandemie aktueller denn je.

Extreme Belastungen der ärmeren Familien

2019 lebten in Deutschland rund 39,5 Mio. Menschen in 11,5 Mio. Familien (d. h. mit minderjährigen Kindern). Davon waren rund 2,6 Mio. Ein-Eltern-Familien, wobei hier in 85 % Mutter und Kind(er) zusammenlebten.

Die andauernde Dreifachbelastung mit Arbeit oder auch Homeoffice und gleichzeitiger Betreuung der Kinder aufgrund geschlossener Kindertagesstätten und Schulen bringt viele Eltern in der Pandemie an ihre Belastungsgrenzen. Nur wer eine sichere Ressourcenbasis hat, kann das Geschehen zumindest in Teilaspekten als eine "entschleunigte" Zeit mit den Kindern bewerten.

Je geringer die familiäre Ressourcenausstattung ist, desto mehr Belastungen treten in allen Lebensbereichen auf. Für Alleinerziehende erweisen sich Betreuungsangebote als existenziell, da sie sonst ihren Job verlieren. Berufliche Sorgen hat jede Familie, doch von existenziellen Nöten berichtet immerhin schon jede Fünfte. Einkommensverluste treffen etwa 40 % aller Beschäftigten. Hohe Einkommensverluste von mehr als 50 % erleben jedoch primär diejenigen, die weniger als 1.500 Euro im Monat zur Verfügung haben. Aufstockende Leistungen bei Kurzarbeit greifen bei Niedrigeinkommen kaum und Jobverlust trifft aktuell besonders die, die schon vor der Pandemie einen geringen Verdienst hatten. Dazu kommen erhöhte Belastungen in anderen Lebensbereichen:

Mehr als 50 % der Eltern berichten von zunehmenden psychosomatischen Beschwerden und von wachsenden Schwierigkeiten, ihre Kinder zufriedenstellend zu beschäftigen oder von mehr Streit bzw. Konflikten in der Familie seit Beginn der Corona-Pandemie.

Weitreichende Folgen

Die je nach sozioökonomischer Familienlage schon im Kita-Alter vorfindbaren Entwicklungsunterschiede weiten sich seit Beginn der Pandemie noch aus, etwa im Bereich Motorik, beim Zählen oder im Bereich Sprachentwicklung.

Der Download der Streitschrift ist von der Website des Programms "Präventionsketten Niedersachsen: Gesund aufwachsen für alle Kinder!" möglich.

In Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen wird die Belastung für die Kinder noch deutlich höher eingeschätzt als in jenen mit gesicherter Finanzlage. Psychische Auffälligkeiten betreffen laut COPSY-Studie des Hamburger UKE nun ein Drittel der 7- bis 17-Jährigen. Vor der Krise betraf dies lediglich 2 von 10 Kindern.

Viele junge Menschen sind über mehrere Stunden allein, mit einem um bis zu 75 % erhöhten Medienkonsum bei den 10- bis 17-Jährigen – ohne Anrechnung von Homeschooling-Zeiten (DLF 2021). Damit verbunden ist mit Sicherheit Bewegungsmangel. Ob Fehlernährung und auch die Anzahl von übergewichtigen Kindern zunimmt – wie Online-Befragungen zeigen oder auch pädagogische Fachkräfte berichten – muss dringend genauer geprüft werden.

Die Lernentwicklung geht infolge der Bildungsunterbrechung weit auseinander, und die Bildungsbenachteiligung wird verstärkt. Der Wissensverlust bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien ist um bis zu 55 % höher als bei Kindern aus Akademikerfamilien, wie mehrere Studien zeigen. Soziale und ökonomische Faktoren wirken dabei wechselseitig verschärfend.


Weiterführende Literatur
1 Ärzteblatt.de (2020) Kinder bewegen sich weniger, essen schlechter und konsumieren mehr Medien, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119111/Kinder-bewegen-sich-weniger-essen-schlechter-und-konsumieren-mehr-Medien (17.04.2021)
2. Bredahl R (2021) Kleine Kinder, kleine Sorgen? Folgen der Pandemie für Vorschulkinder, Folienvortrag auf dem 2. Düsseldorfer Symposium zu Kinderrechten und Kinderschutz – Kinder und Jugendliche in der Pandemie, online am 24.03.2021
3. BT-Drs. 19/28274 = Bundestagsdrucksache 19/28274: Bildungs- und Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Pascal Kober, Michael Theurer, Johannes Vogel (Olpe), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP– Drucksache 19/27708 –, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/282/1928274.pdf (17.04.2021)
4. Datenreport (2021) Auswirkungen der Coronapandemie. 14. Auszug aus dem Datenreport 2021, https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021-kap-14.pdf;jsessionid=9FBF46715C6AD30036202BDD60DB5032.live712?__blob=publicationFile (17.04.2021)
5. DLF = Deutschlandfunk (2021) Mediennutzung in der Corona-Pandemie. Suchtforscher: Eltern müssen analoge Alternativen anbieten, https://www.deutschlandfunk.de/mediennutzung-in-der-corona-pandemie-suchtforscher-eltern.680.de.html?dram:article_id=492453 (17.04.2021)
6. Engzell P, Frey A, Verhagen M (2021) Learning Loss Due to School Closures During the COVID-19 Pandemic, SocArXiv Papers, https://osf.io/preprints/socarxiv/ve4z7/ (17.04.2021)
7. Hans Böckler Stiftung (Hrsg.) (2020) Coronakrise verschärft soziale Ungleichheit, in: Böckler Impuls 12/2020, 16. Juli 2020, S. 1-5, https://www.boeckler.de/pdf/impuls_2020_12_gesamt.pdf (17.04.2021)
8. Ravens-Sieberer U, Kaman A (2021) Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie, in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 1. März 2021, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00103-021-03291-3.pdf (17.04.2021)
9. Holz G, Richter-Kornweitz A (2020) Corona-Chronik – Gruppenbild ohne (arme) Kinder. Eine Streitschrift, Frankfurt a.M. / Hannover LINK und LINK (Download der Chronologischen Grafik)
10. Schäfermeier E, Agache A (2021) Familienalltag in Zeiten von Corona, Folienvortrag auf dem 2. Düsseldorfer Symposium zu Kinderrechten und Kinderschutz – Kinder und Jugendliche in der Pandemie, online am 24.03.2021



Korrespondenzadresse
Dr. Antje Richter-Kornweitz
Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V.
Fenskeweg 2
30165 Hannover

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (4) Seite 110-111