Wie ist Sozialpädiatrie und wie sind Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) zu definieren? Ein Rückblick auf die Historie bis hin zum heutigen Status quo.

Hin und wieder stellen wir in dieser Zeitschrift kommentierende Meinungsbeiträge zur Diskussion, um darüber auch eine weitergehende inhaltliche Debatte in Gang zu bringen. Dazu gehören etwa manche Beiträge des Kipra-Kolumnisten Stephan Heinrich Nolte, der mit seinen mitunter überspitzten Texten häufiger Widerspruch hervorruft. Als kommentierenden Meinungsbeitrag sieht die Redaktion auch den Beitrag „Sozialpädiatrische Zentren in Deutschland als Unikat kinder- und jugendärztlicher Versorgung – ein Update“ von Prof. Hubertus von Voss aus München an. „SPZ in Deutschland sind ein einzigartiges Versorgungskonzept in Europa und weltweit.“ Der frühere Ärztliche Direktor des Kinderzentrums München und ehemalige DGSPJ- Präsident spannt dabei einen breiten Bogen von der Historie über den heutigen „Status quo“ bis hin zur Frage, unter welchen Kriterien zusätzliche Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) etabliert werden sollten. Wie stehen Sie – liebe Leserinnen und Leser der Kipra – zu diesen Thesen des Autors? Über Ihr Feedback an die Redakteurin Angelika Leidner, E-Mail: leidner@kirchheim-verlag.de, würden wir uns sehr freuen.

In größeren zeitlichen Abständen taucht auch in dieser Zeitschrift immer wieder die Frage auf, wie Sozialpädiatrie und vor allem Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) zu definieren sind. Eine berechtigte Frage, die möglicherweise bisher nicht immer eindeutig beantwortet werden konnte. Dabei könnten Antworten auf diese Frage helfen, zum Beispiel zusätzliche Sozialpädiatrische Zenten dort – wo notwendig – zu beantragen und auch zu etablieren. Ein Rückblick auf die Historie bis hin zum heutigen Status quo, der im folgenden Beitrag vermittelt wird, kann hierfür durchaus hilfreich sein. Er dürfte aber auch für alle sozialpädiatrisch Tätigen von Interesse sein.

Historie zu Sozialpädiatrischen Zentren

Der Gesetzgeber hat im Jahr 1988 im Sozialgesetzbuch V mit den §§ 119, 120 und 43 Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) eindeutig definiert. Vielfach wird dabei jedoch vergessen, dass es Johannes Pechstein war, der bereits im Jahr 1975 die Institutionalisierung Sozialpädiatrischer Zentren – damals noch als Oberarzt bei Theodor Hellbrügge in München, später dann als Leiter des Kinderneurologischen Zentrums in Mainz – mit seiner vom Deutschen Bildungsrat in Auftrag gegebenen Schrift unter dem Titel „Sonderpädagogik 6 – Sozialpädiatrische Zentren“ auf den Weg gebracht hatte [1].

Er formulierte damals: „Da die notwendige multidisziplinäre Arbeit in der ärztlichen Praxis – der im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen ersten Anlaufstelle – in größerem Umfang kaum realisierbar ist, werden entsprechende zentrale Institutionen benötigt, die die am häufigsten auftretenden kombinierten Störungen (man könnte ergänzen: resultierend aus gravierenden Krankheiten) – ­sowohl diagnostisch als therapeutisch durch eine eng verbundene Teamarbeit unter einem Dach in Angriff nehmen können.“

Auch ist bedeutsam, dass mit dem Sozialgesetzbuch IX vom Juli 2001 über die §§ 26, 27, 29, 30, 55, 56 Sozialpädiatrischen Zentren praxisbezogene Aufgaben erteilt wurden, die in dieser Form bis dahin so eindeutig nicht existierten [2]. „Rehabilitation“, „Förderung der Selbsthilfe“, „Früherkennung und Frühförderung“, „Haushalts- und Betriebshilfe“ sowie „Kinderbetreuung“ und schließlich „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ sowie „heilpädagogische Leistungen“ wurden als Aufgabengebiete für Sozialpädiatrische Zentren genannt. Damit hatte sich der Gesetzgeber dazu entschlossen, einerseits Früherkennung und andererseits Frühförderung zusammenzuführen und dies unter ärztlicher Verantwortung.

Es sollten somit medizinische Leistungen gerade bei Kindern und Jugendlichen mit vor allem chronischen Krankheiten mit einem Angebot heilpädagogischer und psychosozialer Leistungen sowie die Beratung von Erziehungsberechtigten zusammengeführt werden [3]. Dass im Einzelfall auch die Angebote der Hochleistungsmedizin genutzt werden müssen, versteht sich von selbst.

Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin hat sich auf ihrer Homepage eindeutig geäußert im Wissen um die Gesetzgebung, wenn sie formuliert: „Die Sozialpädiatrischen Zentren sind nach § 119 SGB V eine institutionelle Sonderform interdisziplinärer ambulanter Krankenbehandlung.“

Tandemstruktur sichert ­koordinierte Medizin

Florian Heinen schließlich äußerte sich ganz aktuell im Jahr 2021 zur Spezifität Sozialpädiatrischer Zentren, wenn er formuliert: „Der Zusammenarbeit von Pädiatrie und Sozialpädiatrie könnte dabei sogar eine Vorbildfunktion für inhaltliche und strukturelle Weiterentwicklung im deutschen Gesundheitswesen zukommen. In pädiatrisch-sozialpädiatrischen Tandemstrukturen kann die Versorgung für diejenigen gesichert werden, die einer koordinierten Medizin besonders bedürfen…“ [4]. Heinen dachte hier vor allem an ein multidisziplinäres, multimodales, interdisziplinäres bio-psychosoziales Arbeitskonzept, welches, möglichst angegliedert an eine kompetente Kinderklinik, longitudinal Kinder und Jugendliche mit chronischen und seltenen Krankheiten in einem Sozialpädiatrischen Zentrum angeboten werden müsse.

Ergänzend sei bemerkt, dass grundsätzlich jede Kinderklinik das Anrecht hat, einen Antrag beim zuständigen Zulassungsausschuss zu stellen, eine Genehmigung für ein Sozialpädiatrisches Zentrum zu erhalten. Dabei hat das Bundessozialgericht im Jahr 2016 (Az: B6KA6/15R) zu einem Antrag aus einer süddeutschen großen Kinderklinik betont, dass die Bevölkerungszahl (400.000 – 450.000) kein geeigneter Parameter sei, ein solches SPZ zu genehmigen oder abzulehnen. Das Gericht räumt ein: „Dabei kann es sich allerdings nur um einen groben Anhaltspunkt handeln. Dies folgt aus dem Umstand, dass die Orientierung an Einwohnerzahlen weder berücksichtigt, wie hoch der Anteil der Kinder an der Einwohnerzahl ist, noch zu welchem Anteil diese auf die speziellen Leistungen von SPZ angewiesen sind.“

Auch die Wartezeit für Patienten bis zum ersten Kontakt mit einem SPZ wird angesprochen. Hier hält das Gericht sogar eine Wartezeit von bis zu 4 Monaten für tolerabel, was sicherlich den Bedürfnissen von akut zu behandelnden Patienten in keiner Weise gerecht wird. Denn immerhin werden SPZ in Deutschland in jedem Jahr von mehr als 350.000 Eltern mit ihren kranken Kindern und Jugendlichen aufgesucht.

Betrachtet man nun, wie kontrovers in manchen Städten SPZ-Anträge behandelt bzw. abgewiesen werden, so ist entscheidend, dass das BSG in seinem Urteil auf die „speziellen Behandlungen“ bei Kindern abhebt.

Daraus ergibt sich insbesondere auch ein Anspruch von Universitätskliniken. Wo sonst können neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu speziellen Krankheiten bei Kindern gewonnen werden? Gerade bei Verdacht auf Vorliegen einer seltenen Krankheit müssen alle Spezialisten mitwirken.

Krankheitskatalog wurde beträchtlich ausgeweitet

Antragsteller für ein neues SPZ müssen allerdings nachweisen, dass sie entsprechend dem „Altöttinger Papier“ generell in der Lage sind, dass Kinder mit unterschiedlichsten Krankheiten eine biopsychosoziale, interdisziplinäre und vor allem auch longitudinale sozialpädiatrische Betreuung erhalten. Das ist zum Beispiel unbestritten der Fall nach komplizierter Frühgeburt mit nachfolgenden Gesundheitsproblemen, bei chronischem Asthma, nach komplizierten Herzoperationen, bei schweren Stoffwechselkrankheiten, neuropädiatrisch erklärbaren Krankheiten, therapieresistenten Epilepsien, kognitiven unklaren Entwicklungsstörungen etc. Oder es handelt sich um Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden Entwicklungsstörungen: etwa bei Folgeerscheinungen bei Kindern nach Trennung und Scheidung, bei sogenannten Soziosen, bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder erlebten Traumata nach Flüchtlingsodysseen oder Misshandlung oder schwerwiegenden emotionale Störungen.

Allein anhand diesem längst nicht vollzähligen Katalog von Krankheiten erkennt man, dass sich das Krankheitsspektrum über die Jahre erheblich erweitert hat. Der Gesetzgeber spricht deshalb in § 119 SGB V von Krankheiten und nicht von „Behinderungen“, die allerdings zumeist dann als Folge der aufgezählten Krankheiten oder Entwicklungsstörungen auftreten können.

Will man also solche Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien auffangen, dann benötigt man ein tragfähiges sozialpädiatrisches Konzept, ggf. auch unter Nutzung der Hochleistungsmedizin, bei dem Ärzte mit Psychologen, Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Logopäden und Fachleuten der Labormedizin, Röntgenologie, Humangenetik etc. interdisziplinär zusammenarbeiten müssen.

Dieser Tandemgedanke wurde im Kinderzentrum München bereits 1990 eingeführt. Gemeint war mit diesem Begriff und damit mit diesem Konzept, dass Sozialpädiater als Ärzte und Psychologen von Anfang eine Familie longitudinal gemeinsam betreuen und hier vor allem Eltern die Vorgeschichte zu ihrem betroffenen Kind nicht zweimal, beim Sozialpädiater und nachfolgend beim Klinischen Psychologen, ausbreiten müssen. Mit diesem Konzept wird es möglich, ein abgestimmtes und diagnostisches und daraus resultierend therapeutisch abgestimmtes Vorgehen zu ermöglichen.

Die ehemaligen Erkenntnisse von Pechstein entsprechen den heutigen Vorgaben des aktuell gültigen „Altöttinger Papiers 3.0“. So hat es auch der damalige Sprecher der Sozialpädiatrischen Zentren in Deutschland, Dr. Christoph Kretzschmar, bereits 2015 formuliert, wenn er feststellte: „Das ‚Altöttinger Papier 3.0‘ muss immer wieder an neue Trends und Qualitätsansprüche angepasst werden [5].“

Sozialpädiatrische Zentren an ­Schwerpunktkliniken

Wiederholt wird – häufig berechtigterweise – an einem Ort, wo bereits ein SPZ besteht, ein zweites SPZ beantragt. So geschah es bereits in
  • Köln (N = 2),
  • Düsseldorf (N = 3),
  • München (N = 5),
  • Berlin (N = 16 bei 3,465 Millionen ­Bewohnern)

Diesen Anspruch zur Errichtung eines SPZ müssen Universitätskliniken auch durchsetzen können, da schließlich das BSG im Jahr 2016 bereits auf kranke Kinder mit „speziellen Bedürfnissen“ hingewiesen hat, um die es in einem SPZ dann in der Trägerschaft einer Universitätskinderklinik in besonderer Weise gehen muss.

Wird dann in einer Stadt mit einer Universitätskinderklinik zu einem in dieser Stadt bereits bestehenden SPZ ein weiteres universitäres SPZ beantragt, so müssen folgende Kriterien erfüllt sein, die in einem bestehenden SPZ einer Prüfung unterzogen werden müssen:
  • Wartezeit bis zum 1. Termin in einem SPZ (§ 75Ia Satz 1 SGB V) nicht länger als 4 Wochen (Durchschnitt in Deutschland: rund 3 Monate bis maximal 9 Monate)
  • Zahl der Überweisungsscheine pro Jahr, aufgeschlüsselt nach neu angemeldeten Patienten und Patienten, die wiederholt pro Quartal vorstellig werden. Kinder mit einem Alter von 0 bis 2 Monaten müssen bevorzugt Termine erhalten.
  • Überprüfung der Diagnosen bei in einem bereits bestehenden SPZ vorgestellten Kindern
  • Zahl der Überweisungen zu spezifischer Diagnostik oder auch Therapie in ausgewiesene auswärtige Institutionen (Labor, MRT, Audiologie etc.)
  • Auflistung der Anzahl von Hochleistungsgeräten in einem bestehenden SPZ, z. B. EEG, Langzeit-EEG, Video-EEG, audiologische Messgeräte etc.

Zusammengefasst bedeutet dies, dass der Gesetzgeber der Meinung ist, dass kranke Kinder im Speziellen aber auch generell einen Anspruch auf eine sozialpädiatrische Höchstleistung in den Bereichen Diagnostik und Therapie bis hin zur Rehabilitation haben. Falls diese Forderung mit den bestehenden (SPZ)-Angeboten nicht erfüllt werden können, sind neue Angebote – etwa ein zweites ggf. universitär verankertes SPZ – zu schaffen, damit diese speziellen Leistungen unter Nutzung eines hohen fachlichen Standards für alle Kinder erbracht werden können – natürlich unter der Voraussetzung einer zeitgemäßen digitalen Ausstattung sowie den vorgegebenen hohen Qualitätsstandards für Diagnostik und Therapie.

Fazit

Den SPZ kommt hier eine weiter anspruchsvolle bedeutende Rolle zu, so war es in der Vergangenheit und muss es auch in der Zukunft bleiben. Jegliche Kinderklinik mit breitem Angebotsprofil an Diagnostik und Therapie hat in Deutschland einen Anspruch, ein SPZ zu beantragen. Nicht die Trägerschaft ist von Bedeutung. Kranke Kinder aufgrund einer seltenen oder chronischen Krankheit bedürfen einer bis ins Erwachsenenalter andauernden ärztlichen und psychosozialen Versorgung auf hohem Niveau. SPZ garantieren solch ein Versorgungskonzept. Ein entscheidendes Kriterium ist, wie lange Kinder mit seltenen oder chronischen Krankheiten auf den Ersttermin in einem SPZ warten müssen. Vor allem Kleinkinder haben einen Anspruch auf schnelle Hilfen.


Literatur
[1] Pechstein J (1975) Sozialpädiatrische Zentren für behinderte und entwicklungsgefährdete Kinder. Sonderpädagogik 6 – Sozialpädiatrische Zentren. Deutscher Bildungsrat – Gutachten und Studien der Bildungskommission, Vol. 53. Klett, S. 45 ff
[2] von Voss H (2017) Sozialpädiatrische Zentren – Genehmigungspraxis und Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Kinderärztl Prax 88: 406 – 411
[3] von Voss H (2019) Sozialpädiatrie an der Schnittstelle zur Kinder -und jugendärztlichen Praxis. Pädiatr Praxis 80: 92
[4] Heinen F (2021) Tandemstrukturen von Pädiatrie und Sozialpädiatrie – Zur Versorgung komplex chronisch kranker Kinder und Jugendlicher sind sie ein Muss. Kinderärztl Prax 92: 170 – 176
[5] Kretzschmar C (2015) „Altöttinger Papier“ muss immer wieder an neue Trends und Qualitätsansprüche angepasst werden. Kinderärztl Prax 86: 249 – 250


Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hubertus von Voss
Hartwaldstraße 5
81377 München

Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (2) Seite 132-135