Der "rote Faden" hat für Kinderärzte und ihre Arbeit gleich mehrere Bedeutungen, findet Kinderarzt Dr. Stephan H. Nolte.

Im Folgenden werden 5 Bedeutungen des "roten Fadens" in der kinder- und jugendärztlichen Praxis dargelegt:

  • Patienten als "unsere Patienten" zu identifizieren;
  • die Patienten an unsere Praxis zu bin- den;
  • ihren Familien und ihnen den Weg durch das Labyrinth der Medizin zu weisen;
  • einen "roten Faden" als durchgängiges Konzept in den Praxen zu bieten;
  • daran zu erinnern, dass wir mit ande- ren Menschen verbunden sind.

Ein "roter Faden" ist eine Spur, ein Weg, eine Richtlinie, eine Markierung. Umgangs- sprachlich sagt man, "etwas zieht sich wie ein roter Faden durch etwas". Geschichtlich bezieht sich der Begriff in der griechischen Mythologie auf den Ariadnefaden, der Theseus den Weg durch das Labyrinth des Minotauros wies: Der rote Faden der Ariadne.

Der Ariadnefaden war in der griechischen Mythologie ein Geschenk von Ariadne, der Tochter des Königs Minos, an Theseus. Mithilfe des Fadens fand Theseus den Weg durch das Labyrinth, in dem sich der Minotauros befand. Nachdem Theseus den Minotauros getötet hatte, konnte er entlang des Fadens das Labyrinth wieder verlassen.

So ist der rote Faden immer ein sicherer Weg: Wenn man beim Betreten eines Labyrinths einen Faden abrollt, um die zurückgelegte Strecke zu markieren, wird man immer zum Eingang zurückfinden – so er nicht abreißt, oder, wie bei Hänsel und Gretel, untaugliche Mittel verwendet werden. Praktisch wird das Fadenprinzip z. B. beim Höhlentauchen eingesetzt. In der Stadt Hannover etwa markiert der rote Faden einen Weg zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten kreuz und quer durch die Stadt.

Der rote Faden zur Identifizierung

Im ersten Buch der Bibel begegnet uns der "rote Faden" als Unterscheidungsmerkmal zwischen Zwillingsbrüdern: "Bei der Geburt streckte einer die Hand heraus. Die Hebamme griff zu, band einen roten Faden um die Hand und sagte: Er ist zuerst herausgekommen" (1, Mose 38, 28).

In den Praxen begegnet uns der rote Faden am Handgelenk als Talisman gegen den "bösen Blick". Das Band wird, einer Tradition der Kabbala folgend, siebenmal geknotet. So manche Säuglinge haben daher einen roten Faden um ihr linkes Handgelenk gewickelt. Was ist damit für die Praxis gemeint?

Wir sollten unsere Patienten als "unsere" identifizieren können. Dass das oft schwierig ist, liegt u. a. daran, dass es nicht klar besprochen wird: Handelt es sich bei einer Konsultation um eine "Auftragsleistung" oder erwarten die Eltern bzw. der Patient, dass wir den roten Faden der Identifikation knüpfen und uns umfassend um das Kind kümmern?

Woher wissen wir eigentlich, dass ein Patient "unser" Patient ist, gibt es doch in Deutschland kein eigentliches Primärarzt- system mit formaler Einschreibung und einer Basisvergütung auch dann, wenn der Patient nicht kommt. In einem solchen System würde Gesundheit lohnenswert werden, weil man nicht nur von Krankheit profitiert.

Es gibt neuerdings eine formale Einschreibung in die "Integrierte Versorgung", aber eine formale "Erstanamnese", eine umfassende Beschäftigung mit dem zukünftigen Patienten, gibt es nur in der Homöopathie. Sie sollte eigentlich die Eingangsvoraussetzung für eine jede verantwortungsvolle Patientenbetreuung sein.

Der rote Faden zur Bindung der Patienten

Der Ausdruck, "Es zieht sich wie ein roter Faden durch", bedeutet, dass sich eine durchgehende Struktur oder ein Ziel er- kennen lässt, ausgehend von dem roten Kennfaden der britischen Marine:

"Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören." (Goethe, Wahlverwandtschaften)

So können auch wir einen roten Faden einweben, um "unsere" Patienten zu bin- den und zu verhindern, dass sie ohne un- ser Wissen und ohne ihr eigenes Wollen an andere Fachdisziplinen geraten. Eine einfache Regel ist die, dass kein Patient die Praxis verlässt, ohne zu wissen, wann er wieder kommen soll – am besten gleich mit Termin.

Weiterführende Information, wie Vorsorge- und Impfpläne oder über die U9 hin ausgehende Wachstumskurven, sind sehr geeignet, an kommende Termine zu erinnern. Hinweise auf organisierte Notdienste verhindern das ungezielte Aufsuchen anderer Einrichtungen.

Ein Interesse an persönlichen Fakten, wie Lebensumstände, Beruf der Eltern, Hobby, Haustiere sowie das persönliche Ansprechen mit dem Namen, schaffen ei- ne gute Vertrauensbasis, wenn auch der Datenschutz bei Anwesenheit Dritter, z. B. bei Telefongesprächen oder der Aufnahme an der Anmeldung, eine namentliche An- sprache verbietet.

Und wenn wir den roten Faden verlieren? Eltern wechseln häufig einfach ohne besonderen Grund und ohne vorherige Ankündigung die Praxis. Untersuchungen zeigten, dass zu 90 % den Praxen die Schuld zugeschoben wird. Jedoch können der Arzt und die Praxis nur selten entsprechende Rückschlüsse und Konsequenzen ziehen, denn wir wissen nicht, warum.

War der Patient besonders zufrieden und braucht uns nicht mehr, oder hat er wütend die Praxis verlassen?

Wir sollten uns um die Patienten küm- mern, die nicht wiederkommen, und froh um jede Rückmeldung sein. Jeder in der Praxis muss weiterleiten, was ihm zu Oh- ren kommt, neben den Wechseln auch Wegzüge, schon allein, um die Akte aufzulösen und gegebenenfalls mitzugeben. Das gilt auch für Jugendliche, die der Kinderarztpraxis entwachsen sind.

Der rote Faden durch das Labyrinth der Medizin

Eng verknüpft mit der Patientenbindung ist das Problem der Lotsenfunktion, die der Primärarzt im Gesundheitswesen haben sollte. Dritte, von Verwandten bis zu Nachbarn, von der Krippe über den Kin- dergarten bis zu den Lehrern, geben Rat- schläge und raten unter Umgehung des Kinder- und Jugendarztes zu Konsulta- tionen von Spezialisten: Urologen beim Einnässen, Pädaudiologen bei Ungehor- sam, Osteopathen bei Liegeschäden, Kinder- und Jugendpsychiater bei Wutanfällen, Ergotherapeuten bei Unerzogenheit – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Oft erfahren wir erst im Nachhinein von Karrieren, die die Kinder durchlaufen: Zwischen U7a und U8 wurden sie zirkumzidiert, adenotomiert, paukendrainiert, mit Einlagen versehen, logopädiert, entwicklungsdiagnostiziert und ergotherapiert – der betreuende Kinder- und Jugendarzt weiß von nichts, wurde nicht gefragt.

Wir können außer einer guten Patientenbindung aufgrund eines guten Kontaktes die Einrichtungen immer wieder darum bitten, bei Auffälligkeiten die Kinder immer zuerst zu ihrem Kinder- und Jugendarzt zu schicken. Unbedingt sollten wir jede Überweisungsanforderung hinterfragen und unsere Mitarbeiterinnen anhalten, am Telefon zu sagen, dass wir uns das Kind erstmal selbst anschauen sollten.

Alle sonstigen Informationen sollten von allen weitergegeben werden; bevor es vergessen wird, kann man sie etwa im Praxis-PC in eine "To-do-Liste" schreiben. Dazu gehört auch ein routinemäßiges Aufrufen von Geschwisterkindern, um nachzufragen, was denn aus dem letzten Konsultationsgrund geworden ist. Diese Rückkopplung ist für uns immens wichtig: War es gut und richtig, was wir getan haben, oder musste der Patient woanders hingehen, wie ist es weiter- und ausgegangen?

Das genau macht den Unterschied zu einer Notfallambulanz oder Wochenend- sprechstunde aus, wo man eben nicht weiß, woher der Patient kommt und wohin er geht. Das Problem Notdienst ist ein sehr großes und zunehmendes in der Medizin. Denn im Notfall, ob wirklicher oder gefühlter, wird immer notfallmäßig ent- schieden und gehandelt, und oft aus Si- cherheitsgründen zuviel getan, z. B. Oti- tiden, Pneumonien oder Harnweginfek- tionen diagnostiziert. Die Folgen können immens sein: unnötige weitere Diagnostik oder gar Operationen.

Der rote Faden: ein durchgängiges Konzept

Auch die Praxis braucht ihren roten Fa- den. Innere Kongruenz und Kontinuität sind nicht nur wichtig, weil Patienten sich austauschen. Ein Leitbild ist dazu ebenso vonnöten, wie das ungeliebte QM-System, welches immerhin Beliebigkeiten verhin- dern kann.

Es ist offensichtlich, dass wir viele, viel- leicht die meisten Fragen des Sprechstun- denalltags nicht rein "medizinisch" klären können und ein anderes Modell brauchen: Das "biopsychosoziale Modell", das den Menschen in seinem Lebenszusammenhang sieht.

Die erste Grundlage jeder Behandlung ist die Beziehung, gefolgt von der Klärung des zu behandelnden Problems und schließlich die Problembewältigung. Da es kein einheitliches kulturelles Selbstverständnis mehr gibt, müssen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Lebenswelt der Familien gefällt werden.

Verfolgt man die Änderungen der Berufsbezeichnung unserer Mitarbeiterinnen in den letzten Jahren, so wurde aus der Sprechstundenhilfe die Arzthelferin und schließlich die Medizinische Fachange- stellte. Dieser Wandel ist vergleichbar dem des Arztes zum Mediziner.

Letzterer mag Naturwissenschaftler sein, der Arzt aber ist Kultur- und Sozialwissenschaftler und weder Betriebs- noch Wirtschaftswissenschaftler. Konkret heißt das, dass wir es mit Menschen zu tun haben, nicht mit biochemisch-physikalischen Maschinen.

Mit Menschen zu tun haben, das bedeutet in Beziehung zu treten, "man kann nicht nicht kommunizieren" (Paul Watzlawik). Nicht allein der Computer darf den roten Faden in der Hand behalten: Wie für die Kliniken eine Bezugspflege und eine Fallverantwortung zu fordern ist, müssen wir diese auch in den Praxen leisten und dies als unsere Stärke herausstellen.

Der rote Faden der Verbundenheit

Nach einer alten ostasiatischen Weisheit werden die Menschen zu Beginn ihres Lebens von den Göttern mit einem roten Faden, der sie mit anderen Menschen ver- bindet, versehen. So sind durch diesen unsichtbaren Faden alle Menschen miteinander verbunden.

Moderne Forschungen haben dazu ver- blüffende Ergebnisse geliefert. Deswegen sollten wir diese Gedanken der Verbun- denheit auch gegenüber den Patienten aufgreifen und Empathie zeigen: Die Menschlichkeit in der Heilkunst geht nicht selten mit Einzug der Wissenschaftlichkeit verloren. Statt den Menschen mehr zu geben, nehmen wir ihnen etwas weg: ihr eigenes Gesundheitskonzept, ihre vermeintlichen "Irrlehren", alles machen sie falsch. Die moderne Medizin hat aber auch nicht die Lösung für alle Fragen.

Gesundheit ist keine Ware, Gesundheit kann man nicht kaufen, auf Gesundheit kann es keinen Anspruch geben, Gesundheit "geschieht". Wenn wir ein übergreifendes Konzept der "Gesundheit für alle" propagieren sollen, müssen wir Ansichten und Vorstellungen der Patienten respektieren, in erster Linie unser Wissen weitergeben und nicht als Privileg eifer- süchtig hüten.

Grundsätzlicher Interessenkonflikt: Wir leben von Krankheit. Damit wird der Patient in einem zunehmend kommerziali- sierten und damit zur "Gesundheitswirtschaft" degradierten Gesundheitswesen mehr und mehr zum "Wertschöpfungsobjekt": auf dass dem Patienten ein langes und möglichst multimorbides Leben geschenkt sei. Das ist mit dem Ziel einer Eigenverantwortlichkeit für Gesundheit unvereinbar.

"Wir helfen anderen. Ob es den anderen hilft, liegt bei ihnen. Uns jedenfalls hilft es ..." (Worte des 14. Dalai Lama am 2. Juni 2003 in München)



Korrespondenzadresse:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg

Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendmedizin
Alter Kirchhainer Weg 5
35039 Marburg

Genehmigter und bearbeiteter Nachdruck aus: Nolte, S. H.: Editorial: Der „rote Faden“ in der Kinder- und Jugendarztpraxis, pädiat. prax. 82, 355 – 358 (2014), Hans Marseille Verlag GmbH München


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 87 (1) Seite 14-16