Ein Bericht und Fazit zum 72. Kongress des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (BZÖG) 2023 in Potsdam.

Dieses Fazit kann man nach dem 72. Wissenschaftlichen Kongress des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (BZÖG) vom 26. – 29. 04. 2023 in Potsdam ziehen. Das Leitthema "Der Öffentliche Gesundheitsdienst – Wichtiger denn je!" wurde durch die Anwesenheit von Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach und seinen Vortrag im Rahmen der Eröffnung unterstrichen. Ein Schwerpunkt war die Umsetzung des "Paktes für den ÖGD", an dessen nachhaltige Umsetzung auch im KJGD-Hoffnungen geknüpft werden.

Passend hierzu hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) das Online-Portal https://www.kindergesundheit-info.de 2022 durch die Rubrik "Kindergesundheit in der Kommune" erweitert. Serviceangebote und Gesundheitsinformationen wurden gebündelt, vielfältige Illustrationen und audiovisuelle Medien sind als "freie Inhalte" verfügbar , die unter standardisierten Nutzungsbedingungen für eigene Formate bedarfsbezogen zusammengestellt und eingesetzt werden können.

Abwechslungsreiche Formate im Programm des KJGD vermittelten Übersichtsinformationen zu aktuellen Schwerpunktthemen. Workshops vertieften beispielsweise die Themen "Wie gelingt die Beurteilung der sozial-emotionalen Entwicklung bei der Einschulungsuntersuchung?" oder "Kinderschutz im öffentlichen Gesundheitswesen". Darüber hinaus bot sich die Gelegenheit zum intensiven Austausch im Rahmen der Podiumsdiskussion, Poster-Präsentationen und ganz besonders im Rahmen des World Café. Hier wurde auf aktuelle Bedarfe der Unterstützung von Flüchtlingskindern, Schulabsentismus sowie Kompetenzen und Chancen der Arbeit des KGJD in der Kommune fokussiert.

Folgen der Corona-Pandemie sehr weitreichend

Für viele bekannte Problemlagen aus der Arbeit im ÖGD ist die Pandemie offenbar zu einem Katalysator geworden. Von den weitreichenden Einschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie – insbesondere von der Schließung von Kitas, Schulen oder Sporteinrichtungen – waren Familien besonders betroffen. Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Familien zogen sich wie ein roter Faden durch fast alle Beiträge. Die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, insbesondere aus sozial schwächeren Verhältnissen, im Verlauf der Pandemie zeigten Ergebnisse der COPSY-Studie (Corona und Psyche; DOI: 10.2139/ssrn.4304666).

Der Vergleich von zusammengefassten Daten der Schuleingangsuntersuchung aus 15 niedersächsischen Kommunen vor der Pandemie mit dem Jahr 2021 zeigte, dass der Anteil von Kindern mit auffälligen Befunden bei Kindern aus bildungsfernen Familien in vielen Bereichen deutlich zugenommen hat (www.nlga.niedersachsen.de). Im Rhein-Erft- Kreis wurden die Schuleingangsuntersuchungen durch eine Befragung von über 3.400 Familien ergänzt. Auch hier wurden 2022 mehr Auffälligkeiten als vor der Pandemie 2017 – 2019 gesehen ("Familien im Corona-Lockdown"). Vor allem zeigte sich eine große Spannbreite, wie unterschiedlich Familien durch diese Zeit gekommen sind und welche Faktoren für eine gute Bewältigung der Zeit bedeutsam waren.

(Sprach-)Auffälligkeiten korrelierten mit hohem Medienkonsum, hohem BMI und niedrigem Bildungsindex. Die wahrgenommene Belastung korrelierte hingegen mit hohem Bildungsindex, häufigen Konfliktsituationen in der Familie, verändertem Tagesrhythmus und fehlender Unterstützung. Kinder aus Familien, die sich weniger belastet/überfordert fühlten, wiesen mehr Auffälligkeiten im Bereich der Sprache, Visuomotorik und der selektiven Aufmerksamkeit auf. Sie hatten auch eine höhere absolute Medienzeit und häufiger Adipositas. Angebote, die systematisch einerseits zu einer erhöhten Resilienz, Erziehungskompetenz und des Gesundheitswissens in den Familien beitragen, sollten auf den Weg gebracht werden. Andererseits müssen flächendeckend die Einrichtungen durch eine Erweiterung der Betreuungsangebote und der Teams gestärkt werden.

Die Beiträge verdeutlichten einmal mehr die Problematik der Schließung von Betreuungseinrichtungen und Schulen sowie Einschränkungen von Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche. Auch die Aufgabenübertragung in den KJGD selbst und Übernahme von Aufgaben des Infektionsschutzes (z. B. in der Kontaktpersonennachverfolgung) hat Auswirkungen auf die Kindergesundheit, z. B. durch die versäumte Einleitung von Maßnahmen bei der Schuleingangsuntersuchung (https://doi.org/10.1007/s00103-021-03304-1). Das ganze Ausmaß der Auswirkungen wird erst zukünftig mit der vollen Wiederaufnahme und der nachholenden Arbeit in allen Tätigkeitsfeldern des KJGD zu beurteilen sein.

Multiprofessionelle Teams in Schulen fördern

Ein zentrales Thema für den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst in der schulärztlichen Betreuung ist die Stärkung multiprofessioneller Teams in der Schule, z. B. durch den Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften in unterschiedlichen Handlungsfeldern, z. B. der Prävention und Unterstützung der Kinder, Eltern und der Schule. Hier wurde ein weiter Bogen gespannt, er umfasste den Kölner Gesundheitslotsendienst an Familiengrundschulzentren, die evaluierten Angebote der Schulgesundheitsfachkräfte in Brandenburg (https://schulgesundheitsfachkraft.de) und die europäische Ebene von EUSUHM (European Union for School and University Health and Medicine, www.eusuhm.org). Besonders hervorgehoben wurden die Empfehlungen der WHO für Schulgesundheitsdienste (SHS).

Schulabsentismus und schulvermeidendes Verhalten

"Schulabsentismus: Null Bock auf Schule oder chronisch krank?" wurde im World Café des KJGD thematisiert. Tatsächlich reicht das Spektrum vom gelegentlichen "Schwänzen" bis zur totalen Verweigerung. Die Einordnung und die Klärung der Ursachen sind oft entscheidend für den weiteren Verlauf. Beispielhaft genannt sind Kinder, die kranke Eltern unterstützen, Trennungsängste, Mobbing in der Schule oder im Internet oder andere Erkrankungen. Hier wurde die Bedeutung der interdisziplinären und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit hervorgehoben. Passende Hilfs- und Unterstützungsangebote sind essenziell und entsprechend vielfältig.

Auch in diesem Bereich wurde in den letzten Jahren eine Verschärfung der Problematik gesehen. Zur Sprache kamen auf dem Kongress Fallbeispiele auch von jüngeren Kindern im Alter von 10- bis 12 Jahren und schwerere Verläufe mit längeren Fehlzeiten bis zur Überleitung zur Versorgung. Besonders hervorgehoben wurde das "Konzept zum Schulabsentismus" aus Schleswig-Holstein (https://transparenz.schleswig-holstein.de). Zu den "neuen" Problemen zählte die Rückführung vom Homeschooling in den Präsenzunterricht.

Auch die BAG Kinder- und Jugendpsychiatrie widmete sich diesem Thema u. a. mit kommunalen Beispielen und den Möglichkeiten systemischer Versorgung.

Zahnmedizin für Kinder und Jugendliche

Die Kinder- und Jugendzahnpflege im ÖGD, insbesondere die Gruppenprophylaxe für Kinder in Kindertagesstätten und Schulen, ist neben der kinderärztlichen und zahnärztlichen Vorsorge ein wichtiger Baustein der Primärprävention in diesem Bereich. Die Folgen der Unterbrechung der Maßnahmen während der Pandemie werden jetzt sichtbar, Spätfolgen für die Zahngesundheit der "Corona-Jahrgänge" sind zu befürchten.

In einem Beitrag des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) wurden Studienergebnisse zur Fluoridversorgung vor der Pandemie vorgestellt (https://doi.org/10.1007/s44190-022-0038-2). Die Frage nach unterschiedlichen Quellen zeigte, dass ca. 10 % der Kinder zwischen 0,5 und 5 Jahren kein Fluorid, aber ein erheblicher Anteil von Kindern Fluorid aus mehr als einer Quelle erhielten. Die Umsetzung der 2021 verabschiedeten Handlungsempfehlungen für die Kariesprophylaxe mit Fluorid ist heute besonders wichtig (https://doi.org/10.1007/s00112-021-01167-z). Elterninformationen zur Fluoridversorgung sind für die Kariesprophylaxe von großer Bedeutung.

Fazit

Der Kongress zeigte somit viele Anknüpfungspunkte und Schnittstellen für die kinder- und jugendärztliche Versorgung und deren Bedeutung in der Kommune. Gleichzeitig wurde deutlich, wie dringlich die Stärkung des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes und seiner interdisziplinären Kooperationspartner ist, um die Herausforderungen bewältigen zu können, die (zusätzlich) im Rahmen der Pandemie für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen entstanden sind.


Korrespondenzadresse
PD Dr. Erika Sievers, MPH

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (5) Seite 360-363