Beeinflussen neuropädiatrische Grunderkrankungen bei Kindern und Jugendlichen das Risiko für eine SARS-Cov2-Infektion? Und welche Auswirkungen haben bei diesen Patienten die Restriktionen im Rahmen der Pandemie aus sozialpädiatrischer Sicht? Prof. Dr. Peter Borusiak fasst zusammen.

Zur Coronavirus-Pandemie gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, Studien und Meinungen. Eine Google-Suche nach "Corona Kinder Studie" erbrachte Ende Juli 2020 ca. 54,5 Mio. Ergebnisse. Die vielen Studien ließen aber zum Zeitpunkt der Erstellung des Artikels im August 2020 noch kein einheitliches Bild erkennen, welche Rolle Kinder und Jugendliche bei der Verbreitung des Virus tatsächlich spielen. Die Einordnung der Studienergebnisse ist nicht immer einfach, was auch an den unterschiedlichen Rahmenbedingungen liegt, unter denen die jeweiligen Untersuchungen erfolgten. Die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse war vielfältig begründbar. Einflussfaktoren wie Repräsentativität des untersuchten Kollektivs, teilweise fehlende Vergleichsgruppen, Einsatz verschiedener Untersuchungsinstrumente, die Motivationslage der Untersucher und Untersuchungszeitpunkte zu unterschiedlichen "Lockdown-Phasen" erbrachten teilweise widersprüchliche Resultate.

Relativ klar dürfte aktuell sein, dass in Mitteleuropa Kinder und Jugendliche insgesamt nicht zu den hauptsächlich vital bedrohten Gruppen gehören. Mitte Juli waren in Deutschland 9.063 Patienten im Rahmen einer COVID-19-Infektion verstorben. Davon waren lediglich 3 unter 18 Jahren [1]. Ähnlich stellen sich die Zahlen beim "European Surveillance System (TESSy)" dar: Unter den bis Mitte Juli verstorbenen 44.695 Patienten waren 4 unter 15 Jahren [1].

Aktualisierte Daten unter www.dgpi.de

Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) sammelt die Verläufe von schwerer erkrankten und hospitalisierten Patienten und stellt die Daten zeitnah auf ihrer Homepage zur Verfügung (www.dgpi.de). Dies betrifft auch Kinder mit schweren inflammatorischen Krankheitsbildern, die unter den Akronymen MIS-C (Multisystem Inflammatory Syndrome in Children) oder PIMS (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) geführt werden.

Kaum verfügbar sind allerdings Informationen, inwieweit Kinder und Jugendliche mit neuropädiatrischen Grunderkrankungen möglicherweise innerhalb des pädiatrischen Klientels doch ein erhöhtes Risiko haben. Bei einer Beschreibung verschiedener hospitalisierter Gruppen zeigt sich, dass Patienten mit Grunderkrankungen überrepräsentiert sind. Dies betrifft z. B. Chromosomenanomalien, respiratorische Grunderkrankungen, Autoimmunerkrankungen etc. [2, 3]. Hierbei sind auch Patienten mit neuropädiatrischen Grunderkrankungen aufgeführt, die allerdings nur teilweise differenziert dargestellt werden. Bei der europaweiten Multizenterstudie waren unter den 582 Patienten < 18 Jahren mit PCR-bestätigter SARS-CoV-2-Infektion 26 mit neuropädiatrischen Grunderkrankungen, darunter 9 mit Epilepsien und 8 mit Zerebralparesen [2]. Diese Rate liegt etwas höher als rein aufgrund der Prävalenz anzunehmen ist.

Wir hatten mit Beginn Anfang Mai wiederholte Abfragen in den Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) durchgeführt, um zu sehen, ob Kinder und Jugendliche mit neuropädiatrischen Erkrankungen nicht doch ein höheres Risiko aufweisen. Es kamen bei den Abfragen zwischen 55 und 65 Antworten aus den verschiedenen SPZ, wobei explizit "Negativmeldungen" eingefordert wurden. Erfreulicherweise waren nur sehr wenige Patienten betroffen. Bis Anfang September wurden nur 5 bekannte Infektionen mit SARS-CoV-2 gemeldet.

Diese Zahlen müssen natürlich mit Vorsicht interpretiert werden. Es erfolgte keine systematische Erfassung aller Patienten. Wir können nicht sagen, ob die geringe Zahl auch mit anderweitigen Einschränkungen zusammenhängt. So könnten möglicherweise Eltern ihre Kinder mit Grunderkrankungen aus Vorsichtsgründen aus dem Kindergarten oder der Schule genommen haben.

Das somatische Erkrankungsrisiko mag etwas erhöht sein, wie es für andere Vorerkrankungen gezeigt wurde. Bei aller Vorsicht gehen wir aber aktuell davon aus, dass auch Kinder mit neuropädiatrischen Vorerkrankungen kein wesentlich erhöhtes Risiko – insbesondere für komplizierte der gar letale Verläufe – haben.

Berücksichtigt werden müssen aus sozialpädiatrischer Sicht aber die negativen Begleiterscheinungen der Restriktionen im Rahmen der Corona-Pandemie. Viele der Kinder und Jugendlichen haben einen zusätzlichen Förderbedarf oder sind auf andere Angebote angewiesen, die nicht stattfinden konnten. Die Belastung von Familien mit Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf liegt deutlich höher, wie beispielsweise die Daten der CO-Space-Studie zeigen [4]. Auch die Kinder und Jugendlichen selbst zeigen im SDQ deutlich mehr Probleme als Kinder ohne zusätzlichen Förderbedarf [5]. Die Bedarfe der Kinder, Jugendlichen und Familien waren nur unzureichend berücksichtigt, und auch jetzt fehlen weiterhin praktikable Lösungen.

In diesem Bereich sehen wir aus sozialpädiatrischer Sicht im Weiteren einen erheblichen Handlungsbedarf auf politischer Ebene!


Literatur
1. Zylka-Menhorn V (2020) Kinder reagieren auf Viren anders als Erwachsene. Dt Ärzteblatt 117: B1233 – 1238
2 Götzinger F, Santiago-García B, Noguera-Julián A et al. (2020) COVID-19 in children and adolescents in Europe: a multinational, multicentre cohort study. Lancet Child Adolesc Health doi.org/10.1016/S2352-4642(20)30177-2
3. Parri N, Magistà AM, Marchetti F et al. (2020) Characteristic of COVID-19 infection in pediatric patients: early findings from two Italian Pediatric Research Networks. Eur J Pediatr 179: 1315 – 1323
4. Waite P, Patalay P, Moltrecht B, McElroy E, Creswell C (2020) Report 02: Covid-19 worries, parent/carer stress and support needs, by child special educational needs and parent/carer work status. URL: https://emergingminds.org.uk/wp-content/uploads/2020/05/Co-SPACE-report-02_03-05-20.pdf (accessed 20.8.2020)
5. Pearcey S, Shum A, Waite P, Patalay P, Creswell C (2020) Report 04: Changes in children and young people’s emotional and behavioural difficulties through lockdown. URL: https://emergingminds.org.uk/wp-content/uploads/2020/06/CoSPACE-Report-4-June-2020.pdf (accessed 20.8.2020)


Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Peter Borusiak
Sozialpädiatrisches Institut – Kinderzentrum
Klinikum Bremen-Mitte
Friedrich-Karl-Straße 55
28205 Bremen

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (6) Seite 453-454