Über die Frage nach der optimalen Betreuung von Kindern in den ersten Lebensjahren wird viel und kontrovers diskutiert. So gibt es zur U3-Betreuung in Kitas unterschiedliche Ansichten. Im Beitrag von Rainer Böhm geht es um die Contra-Position. Den Beitrag zur Pro-Position finden Sie hier.
Einleitung
Seit 2013 haben Kinder in Deutschland im Alter von 1 und 2 Jahren einen Rechtsanspruch auf einen außerfamiliären Tagesbetreuungsplatz. Durch die begleitenden Ausbaumaßnahmen stieg der Anteil der Kinder in Tagesbetreuung zwischen 2010 und 2014 bei den 2-Jährigen von 43 auf 60 %, bei den Einjährigen von 23 auf 35 %. Auch nach 2014 zeigen sich weitere Steigerungsraten, je nach Bundesland von bis zu 10 % pro Jahr.
Da dieser Ausbau in erster Linie ökonomisch und geschlechterpolitisch motiviert ist, stellt sich die Frage, mit welchen Auswirkungen dieser Politik auf das Befinden, die Entwicklung und die Gesundheit von Kleinkindern zu rechnen ist. Dieser Frage müssen sich gerade Kinderärztinnen und Kinderärzte intensiv stellen, da in erster Linie sie es sind, die die notwendige naturwissenschaftliche Perspektive in den gesamten Diskussionsprozess einbringen können.
Contra-Hypothese
In diesem Beitrag soll die Contra-Hypothese "Gruppenbetreuung in den ersten 3 Lebensjahren führt durch Bindungsmangel zu chronischer Stressbelastung mit negativen Folgen für Entwicklung und Gesundheit" wissenschaftlich untermauert werden. Hierfür wird aus allen geläufigen Evidenzstufen (Tab. 1) eine Auswahl besonders aussagekräftiger bzw. methodisch hochwertiger Referenzen dargestellt.
Evidenzstufe 1:"Laienmeinung"
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IPSOS von 2007 antworteten auf die Frage "Wo ist ein Kind in den ersten 3 Jahren am besten aufgehoben" 81 % der Befragten "Zu Hause bei Mutter und Vater", 16 % entschieden sich für die Antwortmöglichkeit "In der Kinderkrippe". Eine gleichartige Umfrage von EMNID im Jahr 2012 ergab weitgehend übereinstimmende Ergebnisse [1]. Wichtig ist, dass bei Umfragen das Wohl des Kindes im Zentrum der Frage steht. Wird der Elternwunsch nach einem Krippenplatz erfragt, so zeigen sich Werte um 40 %. Die Differenz zeigt an, dass viele Eltern keine Wahlfreiheit mehr für sich sehen.
Evidenzstufe 2: "Expertenmeinung"
Die renommierte deutsche Bindungsforscherin Karin Grossman stellt in einem Übersichtsartikel zur U3-Gruppenbetreuung abschließend fest: "Aus der Sicht der Bindungstheorie muss man die ganztägige Betreuung von Kindern unter 3 Jahren in Gruppen gleichaltriger Kinder mit größter Skepsis sehen." [2]. Die britische Entwicklungspsychologin Penelope Leach, Leiterin einer der großen Feld-Studien zur frühen Betreuung (FCCC), resümierte die wissenschaftliche Datenlage so: "Studienergebnisse aus der ganzen Welt zeigen ziemlich eindeutig, dass je weniger Zeit Kinder unter 3 Jahren in Gruppenbetreuung verbringen, desto besser für sie." [3].
Evidenzstufe 3: "Kohortenstudien"
Aus dem Fundus der Krippenstudien ragt aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualität insbesondere die amerikanische NICHD-Studie heraus. Sie ergab, kurz gefasst, ein zweigeteiltes Bild [4]:
- Bei frühkindlicher Gruppenbetreuung von 0- bis 4-Jährigen (daycare) war hohe Betreuungsqualität mit leichten Verbesserungen von kognitiven Testergebnissen verbunden (geringe Effektstärken), der zeitliche Betreuungsumfang hatte keinerlei Einfluss auf die Lernleistungen.
- Andererseits zeigte sich in linearer Abhängigkeit vom außerfamiliären zeitlichen Betreuungsumfang eine Zunahme von Verhaltensstörungen in Form aggressiv-impulsiven Verhaltens (geringe bis moderate Effektstärken). Die Effektstärken von mindestens 30 Wochenstunden Gruppenbetreuung sind vergleichbar mit denen von Armut oder körperlicher Misshandlung [5, 6]. Hohe Betreuungsqualität konnte diese Korrelation nicht aufheben.
Beide Phänomene waren auch noch bei der Nachuntersuchung im Alter von 15 Jahren festzustellen, scheinen also zumindest länger anhaltende, womöglich strukturell-dauerhafte Veränderungen darzustellen [7].
Ähnliche Ergebnisse zeigen auch europäische Untersuchungen. Eine große multizentrische Studie zur frühkindlichen Entwicklung des Sozialverhaltens, Z-PROSO, ergab, dass eine Zunahme der Stunden außerfamiliärer Gruppenbetreuung im Kleinkindalter nicht nur signifikant mit einem Anstieg von aggressivem und hyperaktivem Verhalten korrelierte, sondern auch mit ängstlich-depressiven Zügen [8].
Evidenzstufe 4: "Reviews und Meta-Analysen"
Das beschriebene Grundmuster der NICHD-Studie konnte in zahlreichen anderen Studien reproduziert werden [5].
Hinsichtlich der Auswirkungen auf die sozioemotionale Entwicklung kommt eine an der Universität Minnesota erstellte Meta-Analyse über 15 Studien zu folgenden Aussagen:
- "Durchschnittliche Wochenstunden früher außerfamiliärer Tagesbetreuung sind der Faktor, der am stärksten und konstantesten mit dem späteren Sozialverhalten verbunden ist." und
- "Umfangreiche außerfamiliäre Tagesbetreuung ist für das gesamte frühe Kindesalter mit geringerer Sozialkompetenz und Kooperationsfähigkeit, vermehrtem Problemverhalten, schlechterer Stimmungslage sowie aggressivem und konflikthaftem Verhalten verbunden." [9].
Evidenzstufe 5: "Experimentelle Studien"
Studien mit Experimental-Design haben den großen Vorteil, nicht nur Assoziationen, sondern Ursachen nachweisen zu können. Da sie in naturalen Settings schwer zu realisieren sind, gibt es bisher keine geplanten Experimental-Studien zur frühen Gruppenbetreuung. Allerdings gibt es sogenannte "natürliche Experimente", die auch als "Glücksfälle der wissenschaftlichen Forschung" bezeichnet werden. Ein derartiger Glücksfall ist uns in Kanada zugefallen.
Aus dem kanadischen Bundesstaat Quebec liegen jetzt erstmals Befunde einer quasi-experimentellen Studie zu einem allgemeinen, qualitätskontrollierten und hochsubventionierten Bildungs- und Betreuungsprogramm für alle 0- bis 4-jährigen Kinder vor. Dieses Programm wurde Mitte der 90er-Jahre ausschließlich in Quebec eingeführt, während die anderen kanadischen Bundesstaaten ihre Politik im Bereich früher Bildung und Betreuung nicht änderten. In der Experimentalgruppe (Quebec) zeigten sich im Vergleich zur Kontrollgruppe (übrige Bundesstaaten) im Verlauf über 15 Jahre signifikante Verschlechterungen in folgenden Bereichen: Angst, Aggressivität, Hyperaktivität, familiäre Interaktionsmuster, Zufriedenheit, Lebensqualität, Kriminalitätsraten. Unter Gender-Perspektive erwiesen sich Jungen als besonders betroffen [10, 11].
Andere konkordante Befunde
Die Nationale Akademie der Wissenschaften hat kürzlich eine ausführliche Stellungnahme zur frühkindlichen Sozialisation abgegeben [12]. Darin wird ausdrücklich gefordert, dass alle Maßnahmen, die Kleinkinder betreffen, nicht nur aus ökonomischen, soziologischen und pädagogischen, sondern auch aus psychologischen und biologischen Perspektiven zu beurteilen sind.
Aktuelle neurobiologische Forschung weist auf die große Bedeutung einer intakten Stressregulation (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, HPA-Achse) für die lebenslange Entwicklung und Gesundheit hin. Insbesondere chronische Stressbelastungen in den ersten Lebensjahren beinhalten ein hohes Risiko für nachfolgende Verhaltens- und Gesundheitsstörungen sowie psychische Erkrankungen.
Viele Studien der letzten Jahre haben ergeben, dass ein großer Anteil von Kindern in frühkindlicher Gruppenbetreuung erheblichen Stressbelastungen ausgesetzt ist. Dies äußert sich sowohl im Anstieg der Cortisolwerte im Tagesverlauf als auch in langfristiger Erniedrigung der Morgen-Cortisolwerte [13, 14]. Die resultierende Tendenz zur Abflachung der Cortisol-Tagesprofile ist ein Muster, das als typischer Indikator für ungünstige Lebensumstände (early adversity) anzusehen ist [15].
Die Wissenschaftsakademie weist in ihrer genannten Stellungnahme ferner darauf hin, dass Tierversuche an Primaten als valide Modelle für menschliche Stressregulation und Entwicklung anzusehen sind. Die entsprechenden Studien zeigen eindeutig, dass nur kurz dauernde Trennungen der Jungtiere von den Eltern Entwicklungs- und Resilienz-fördernd sind (z. B. einmal pro Woche für eine Stunde, stress inoculation). Tägliche länger dauernde Trennungen führen regelmäßig zu Verhaltensstörungen und verminderter Stressresistenz [16].
Chronische Stressbelastungen gehen häufig mit Beeinträchtigungen des Immunsystems einher. Hier ist ein klarer Zusammenhang zur teilweise massiven Belastung gruppenbetreuter Kleinkinder mit Infektionserkrankungen zu sehen. Die auch in pädiatrischen Kreisen immer noch verbreitete Ansicht, es handele sich hierbei um ein unvermeidliches "Training des Immunsystems", ist aus immunologischer Sicht nicht haltbar [17].
Schlussfolgerung
Aus der Zusammenschau der vorliegenden wissenschaftlichen Evidenz wird deutlich, dass Kinder in den ersten 3 Lebensjahren in Kitas mehrheitlich nicht gut aufgehoben sind.
Die biopsychosozialen Wirkfaktoren der Eltern-Kind-Beziehung können bei Reduktion auf eine sogenannte quality time keine ausreichende Wirksamkeit entfalten. Kinder sind für ihr Wohlbefinden, ihre Gesundheit und ihre harmonische Persönlichkeitsentwicklung gerade in den ersten Lebensjahren nicht nur auf eine gute Qualität, sondern auch auf eine ausreichende Quantität der Eltern-Kind-Bindung angewiesen.
Frühe Gruppenbetreuung bedarf daher neben einem Qualitätsmanagement unabdingbar einer Alters- und Zeitbegrenzung wie sie z. B., in Anlehnung an die NICHD-Leitlinien, in den Bielefelder Empfehlungen konkretisiert wird (Tab. 2). Gleichzeitig muss familiäres Aufwachsen in den ersten Lebensjahren, insbesondere auch bei Risikokonstellationen, stärker begleitet, unterstützt und gefördert werden.
Das Schlagwort "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" wurde bisher dazu missbraucht, einseitig Familienzeit in Erwerbstätigkeit umzuwandeln. Eine erweiterte Forderung nach Vereinbarkeit von "Familie, Gesundheit und Beruf" kann hier notwendige Korrekturen bewirken. Eine bessere gesellschaftliche Unterstützung von Familien und kindlicher Gesundheit ist dabei durchaus mit modernen Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit kompatibel.
Interessenkonflikt: Der Autor hat keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (6) Seite 418-422