Position der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), Fachausschuss ÖGD, zur Gründung eines neuen Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit.

Der Koalitionsvertrag sieht die Gründung eines neuen Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit vor; hier sollen "die Aktivitäten im Public-Health-Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt" sein. Bei der Konzeption einer solchen auf Bundesebene bündelnden Institution sind viele Akzente und Funktionen möglich: Das Bundesinstitut kann wirken

  • als Kompetenzzentrum für Strategieentwicklung im Bereich Gesundheitsförderung über Ressortgrenzen hinweg;
  • als Koordinator und Weiterentwickler des Gesundheitszieleprozesses;
  • als Sachwalter auf Bundesebene für gesundheitliche Chancengleichheit im Sinne eines Nationalen Kooperationsverbunds;
  • als Motor für die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz mit seinen 15 Unterzielen;
  • zusammen mit dem Robert Koch-Institut als Richtungsgeber in der epidemiologischen und Public-Health-Forschung;
  • als Plattform für einen ressort- und länderübergreifenden Ansatz von Gesundheit in allen Politikbereichen.

Diese Beispiele sind weder erschöpfend noch sich gegenseitig ausschließend, sie knüpfen an vorhandene Strukturen und Programme an. Aber wie auch immer die Ausgestaltung sein mag:

Der bevölkerungsmedizinische Blick auf Kinder und Jugendliche muss nachhaltig verankert sein

Kinder sind in besonderem Maße schutzbedürftig. Außerhalb des familiären Kontextes sind sie in der Obhut und Verantwortung vieler staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen wie Kindertagesstätten, Schulen und Freizeitbetreuung sowie ggf. Angeboten der Jugendhilfe. Aufgrund aktueller neurobiologischer Erkenntnisse über die Entwicklungsprozesse in der frühen Kindheit versprechen früh ansetzende Maßnahmen einen besonders hohen individuellen und damit auch gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Im Sinne der Nachhaltigkeit folgen Maßnahmen der Gesundheitsförderung in allen weiteren Abschnitten der Kindheit und des Jugendalters bis zum Eintritt in das selbstständige Erwachsenenleben.

Nicht zuletzt hat die an Lebensphasen orientierte Bundesrahmenempfehlung der Nationalen Präventionskonferenz als eines ihrer drei Ziele explizit "Gesundes Aufwachsen" gewählt. Aktuell verstärkt und katalysiert die Pandemie gesundheitliche und damit die generelle Chancenungleichheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland – mit noch nicht absehbaren individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen.

Bevölkerungsgesundheit wird durch viele Rahmenbedingungen beeinflusst und auf vielen Ebenen (Bund, Land, Kommune) gesteuert und gestaltet. Ihr Bezug zu Lebenslage, Lebenskontext und Gemeinwesen ist unbestritten und kommunale Daseinsfürsorge eng mit ihr verknüpft. Gesundheitliche Entwicklungen und Bedarfe fallen nicht nur im Versorgungssystem auf, sondern auch und gerade in der unmittelbaren Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Hier erlangen viele Akteure qualitative Erkenntnisse bei der Erfüllung ihrer kommunalen Aufgaben, seien sie beratend, aufsuchend, unterstützend, verwaltend, gestaltend und planend. Diese sowie die Sicht der unmittelbar Betroffenen sind dem KJGD zugänglich, erlangen aber über die lokale Ebene hinaus zu wenig Beachtung. In quantitativer Hinsicht kann durch Gesundheitsberichterstattung und Monitoring Bedarf an und Wirksamkeit von Maßnahmen abgebildet und für den Public Health Action Cycle vor Ort genutzt werden.

Beispiele guter Praxis:
  • www.grundgesund.bzga.de/grundgesund Abschlussbericht eines erfolgreichen Bundesmodellprojekts (BMG) unter Beteiligung mehrerer Landesschulministerien, 2018
  • www.stuttgart.de/suche.php?form=siteSearch-1 Kindergesundheitsbericht des Gesundheitsamts Stuttgart, mit Ableitung gezielter Maßnahmen u. a. für Zahngesundheit
  • Bredahl R: COVID-19-Pandemie: Entwicklungsprobleme bei Schulneulingen nachweisbar. KiPra 92: 394 – 398 (2021) Nr. 6
  • Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg: Kindergesundheitsbericht, letzte Ausgabe vom 10. 12. 2020 (Homepage LGA)
  • Stadt Hildesheim, Sozialberichterstattung: Integrierter Sozialbericht 2019, Pilotstudie (Homepage)
  • Stadt Mannheim: Zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Mannheim, 20. 06. 2018 (Homepage)
  • Stadt Fürth: Bildungsbericht inklusive Coronareport, 18. 11. 2020 (Homepage Bildungsbüro)
  • Stadt Bremen: Gesund in die Schule. Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung 2016/2017 in Bremen. Kommunale Gesundheitsberichterstattung + Sozialpädiatrische Abteilung. www.gesundheitsamt.bremen.de
  • . Kloß S et al.: 12 Jahre Komplexleistung Frühförderung. Erfolgreiches Praxismodell des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Kreis Gütersloh. Gütersloh 3/2020
  • Langenbruch B: Soziale Prävention im Vorschulalter: PIAF für alle. Vom interdisziplinären Pilotprojekt zum kommunalen Regelangebot. KiPra 85: 41 – 51 (2014) Nr. 1
  • Hartwig C et al.: Verbesserung des MMR-Impfschutzes bei Migrantenkindern in einem sozialen Brennpunkt in Deutschland. Bericht des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes des Gesundheitsamts Stade. Epid. Bull. 27. 08. 2012/Nr. 34

Kinder- und Jugendgesundheitsdienste (KJGD) im ÖGD haben eine unverzichtbare Expertise

In Bezug auf Public Health besitzt der Bund keine gesetzgeberische oder Richtlinienkompetenz für Länder oder gar Kommunen. Von daher wäre ein Kompetenzzentrum auf Bundesebene erstrebenswert, in dem auch Forschungsaktivitäten synergistisch gebündelt werden könnten.

Der KJGD ist der kommunalen Bevölkerungsgesundheit für Kinder, Jugendliche und Familien verpflichtet und erfüllt eine Vielzahl bevölkerungsbezogener Aufgaben. Somit ist seine Arbeit im Kern "child public health" (CPH). Seine Kompetenzen, Erfahrungen, seine häufig multiprofessionelle Ausrichtung und seine Vernetzung prädestinieren ihn zu einer starken und multifunktionalen Rolle in CPH. Im Kasten zu diesem Textbeitrag sind dazu einige Gute-Praxis-Beispiele aufgeführt.

So hat der KJGD – den meisten Ländergesundheitsdienstgesetzen zufolge – die Aufgabe, den Gesundheitszustand einzelner Bevölkerungsgruppen in den Blick zu nehmen, im Sinne eines Monitorings zu beobachten und für die Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebensumstände und für Prävention – in Kooperation mit anderen – Sorge zu tragen. Dies gilt auch und insbesondere für frühe vorbeugende Ansätze wie in der Zusammenarbeit mit den Frühen Hilfen und der Jugendhilfe oder im präventiven Kinderschutz. Die enge Zusammenarbeit mit Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung außerhalb des Sozialgesetzbuches V ist ein Wesensmerkmal des KJGD. Darin besteht im Übrigen auch eine besondere Chance für die perspektivische Aufarbeitung der Pandemiefolgen und die Verbesserung der Ausgangslage aus dem Gelernten heraus.

In der kommunalen Daseinsfürsorge stellt der KJGD nicht nur einen wesentlichen Akteur, ein Instrument im Sinne von "task force" dar. Seine Tätigkeit ist wesentlich durch die enge Zusammenarbeit mit Einrichtungen der sozialen, pädagogischen und gesundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen außerhalb des Sozialgesetzbuches V geprägt. Der Beirat zur Beratung zukunftsfähiger Strukturen im öffentlichen Gesundheitsdienst in Umsetzung des Paktes für den ÖGD fordert explizit die Stärkung seiner integrierenden und steuernden Rolle. Hier bestehen Chancen. Erfolge des KJGD erfahren dagegen leider bisher zu wenig Beachtung. Von einer auf Bundesebene koordinierten, systematischen Analyse der Stolpersteine und Gelingensfaktoren dürfte man wichtige Erkenntnisse zur Wirksamkeitsforschung erwarten. Ebenfalls wichtig wäre ein systematischer und systematisierender Blick auf die lokalen Kindergesundheitsberichte und ihren Impact. Viele Ergebnisse könnten dazu beitragen, Kampagnen und Initiativen auf Bundesebene noch erfolgreicher zu gestalten.

Beim Bezug zu den Lebenskontexten ist der KJGD "nah dran"

Wenn es gilt, eine nachhaltige Gesamtstrategie für Prävention und Gesundheitsförderung zu entwickeln und umzusetzen und durch das neue Bundesinstitut zu stärken, sind also Synergien durch Ressourcen, Kompetenzen und Erfahrungen der KJGD zu erwarten. Entwicklung und Umsetzung von Strategien erfordern nun mal Kenntnisse des Bezugs zu den konkreten Lebenskontexten, Austausch und Abstimmung mit den Akteuren anderer Systeme und partizipatives Einbeziehen Betroffener. Und hier ist der KJGD "nah dran".

Präventiver Kinderschutz, Inklusion und Teilhabe seien als weitere drängende Anliegen genannt, die durch die Arbeit eines Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit unter Einbezug des KJGD unterstützt werden sollten. Im flächendeckenden Ausbau der Schulgesundheitspflege ist Deutschland im europäischen Vergleich leider heute als rückständig anzusehen. Die Pandemie und ihre Folgen verdeutlichen bestehende Defizite und erhebliches Optimierungspotenzial. Hier bietet sich aus den originären Aufgaben des KJGD heraus sein aktiver, gestaltender Einbezug auf Bundesebene an. Unter seiner Beteiligung durchgeführte, erfolgreiche Modellprojekte auf Bundesebene bedürfen des Ausbaus und der Verstetigung, um nachhaltige und weiter reichende Effekte zu erzielen.

Fazit – Expertenwissen des KJGD ist unbedingt zu berücksichtigen

Die besondere Bedeutung der Kinder- und Jugendgesundheit für die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit steht außer Frage. Damit das Erfahrungswissen des KJGD, die konkreten Daten aus der Gesundheitsberichterstattung der Kommunen und der Länder und das Monitoring der kommunalen Gesundheitsförderung gewinnbringend in eine Public-Health-Strategie der Länder und des Bundes eingebracht werden können, bedarf es des geplanten Bundesinstitutes für Öffentliche Gesundheit als Stelle der Integration des Wissens, der Vernetzung mit der akademischen Public-Health-Wissenschaften und zahlreichen anderen Akteuren aus der Public-Health-Landschaft und Transmissionsriemen. Evidenzbasiertes Wissen muss verständlich und zeitnah zu den Akteuren vor Ort gelangen, um auch kommunale und regionale Planungen zu unterstützen. In umgekehrter Richtung sollte sich Public-Health-Forschung an Fragestellungen aus der Praxis orientieren und mit den Praktikern zusammen forschen, um bedarfsgerechte und wirksame Konzepte und Instrumentarien zu entwickeln. Das Bundesinstitut sollte dem KJGD vor Ort Möglichkeiten der Beteiligung an wissenschaftlichen Projekten und Strategieentwicklung bieten als auch verstärkt die kommunalen Daten in einen Verwertungsprozess und Qualitätsentwicklung hineinnehmen. Notwendig sind vor allem:

  • Die Einbindung des regionalen KJGD und kommunaler Daten in wissenschaftliche Projekte und die Strategieentwicklung.

Public Health hat das Ziel der Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung der gesamten Bevölkerung, muss sich der Gruppe der Kinder, Jugendlichen und Familien jedoch mit besonderen Strategien nähern. Die Komplexität der Herausforderung zunehmender Diversität spielt insbesondere in der jungen Bevölkerung eine große Rolle, die eine Anwaltschaft und die Beteiligung der Zielgruppen (Partizipation) sowie mit Blick auf die Gesundheitsförderung auch spezifische Ansätze der Gesundheitskommunikation und lebensweltbezogene Maßnahmen erfordern.

  • Die Einbeziehung der unmittelbaren Zielgruppen – Kinder, Jugendliche und ihre Familien – in den Bereich Public Health.

Im Sinne der Sorge um das Gemeinwohl kann dieser Prozess nicht dem Zufall überlassen bleiben, sondern muss in einer übergeordneten Struktur sichergestellt, nachhaltig organisiert und gleichzeitig offen gestaltet werden. Vor diesem Hintergrund sind die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste im ÖGD gern bereit, die Ausgestaltung des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit aktiv zu begleiten.

Für den Fachausschuss ÖGD in der DGSPJ, Februar 2022



Korrespondenzadresse
Dr. Ulrike Horacek, Vorstand DGSPJ
Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ)
Geschäftsstelle
Chausseestraße 128/129
10115 Berlin
Tel.: 0 30/4 00 05 88-6
Internet: www.dgspj.de

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (3) Seite 230-232