Georg F. Hoffmann, Michael J. Lentze, Jürgen Spranger, Fred Zepp, Reinhard Berner (Hrsg.) 5. Auflage, Band 1 und Band 2 (vollständig überarbeitet), 2020. 3.211 Seiten, 301 schwarz-weiß Abb., 707 Abb. in Farbe. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, ISBN 978-3-662-60299-7; 299 Euro

„Was lange währt, wird endlich gut“, dieser Slogan soll deutlich machen, wie sehr die Pädiatrie mit all ihren Disziplinen, so auch die Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, auf die vollständig überarbeitete 5. Auflage des als Handbuch zu bezeichnenden Mammutwerkes gewartet hat.

Nun liegt vor uns ein interdisziplinär angelegtes Lehrbuch der Diagnostik und Therapie zur Kinderheilkunde mit rund 3.200 Seiten in 2 Bänden. Die Namen der Herausgeber bürgen für die kaum zu überbietende Expertise zu einem Fachwissen, welches offenbar wird in jedem einzelnen Kapitel. Mit der erkennbaren ausgewogenen Auswahl von Autoren, die sich um die Pädiatrie bereits verdient gemacht haben, wird die Qualität eines jeden Kapitels schnell deutlich. Allein der Name von Jürgen Spranger als weiterhin maßgeblichem Mitherausgeber und Nestor der Pädiatrie macht offenkundig, in welcher Tradition sich dieses Handbuch fortentwickeln konnte.

Betrachtet man dieses Gesamtwerk, so wird aber auch deutlich, welche Entwicklung die Pädiatrie spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland genommen hat und welche Verdienste sich die deutsche Pädiatrie im Vergleich zur angloamerikanischen Pädiatrie erworben hat und damit Tore aufstoßen konnte, vor Jahrzehnten noch unbekannte Krankheitsbilder nun definieren zu können. Damit konnte die deutsche Pädiatrie dem Kindeswohl dienen und besorgten Familien über zum Teil komplizierte diagnostische Verfahren Wege zu zum Teil ungewöhnlichen Therapieentscheidungen mit entsprechendem Einsatz komplexer diagnostischer Verfahren bei erkrankten Kindern verhelfen.

Buchbesprechungen machen nur dann Sinn, wenn man zu einzelnen wenigen Kapiteln beispielhaft auch Wünsche äußern kann, die bei der Fortschreibung dieses Handbuches im „Online“-Verfahren ggf. berücksichtigt werden sollten.

Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen bedeutet für Kinderärzte eine enorme Herausforderung, da sehr schnell strafrecht­liche Fragen auftauchen und die Schweigepflicht des Kinderarztes im Einzelfall zur Disposition steht. Besonders problematisch kann die Entscheidung „Missbrauch: ja oder nein?“ sein, wenn ein Schütteltrauma vermutet wird. Familien- und biographische Anam­nese sowie differenzial­diagnostische Erwägungen sind es, die im Einzelfall beachtet werden müssen, um ungerechtfertigte Anklagen zu einem vermeintlichen Täter vermeiden zu können. Auch müssen Reanimationsmaßnahmen mit möglichen Schädigungsfolgen für das akut und vital gefährdete Kind abgegrenzt werden, zu vermeintlichen „eindeutigen“ Symptomen, die man bei einem „Schütteltrauma“ erwarten würde.

Das Kapitel zu Epilepsien sollte zukünftig ergänzt werden durch ein Kapitel, ­welches sich mit den „therapie­refraktären“ Epilepsien befasst und hierzu über die Definition hinaus auch Hinweise gibt, welche Ursachen es sein können, die solch einen Epilepsietyp auslösen und welche Therapie­möglichkeiten im Einzelfall bedacht werden sollten. Beim Dravet-­Syndrom muss der Hinweis eingearbeitet werden, dass vielfach noch vollmundig behauptet wird, dass Impfungen in vielen Fällen ein solches Syndrom triggern können. Bei Aufrechterhalten solcher Behauptungen können sich für den impfenden Arzt haftungsrechtliche Fragen ergeben.

Zu begrüßen ist, dass komplementäre und alternative Therapieverfahren kritisch beleuchtet werden. Hier wäre zusätzlich aber der Hinweis angebracht, dass bei unkritischem Einsatz solcher Therapieentscheidungen ggf. auch einmal eine noch nicht klinisch eindeutig erkennbare, aber sich entwickelnde schwere Krankheit bis hin zu einer bösartigen Krankheit übersehen werden können.
Wünschenswert wäre abschließend, dass zu Kapiteln, wo bereits Leitlinien von den einzelnen Fachgruppen der Pädiatrie erarbeitet werden konnten, diese auch in den jeweiligen Kapiteln ausdrücklich benannt werden. Und hilfreich wäre, wenn in der Zukunft auch ein Kapitel eingearbeitet wird mit dem Titel „Der Kinderarzt als Gutachter“, damit zukünftig Gutachten nach „Aktenlage“, ohne das zu begutachtende Kind je gesehen, geschweige als Gutachter untersucht zu haben, eher der Vergangenheit angehören.

Die Freude war groß, als das schwere „Springer“-Paket eintraf. Mehr als 7,2 kg musste man aus dem Karton befreien. Als Leser hätte man sich gewünscht, dass dieses Handbuch in 3 Bänden publiziert wird. Die Nutzung dieses Handbuches bedarf erheblicher Muskelkraft. Sehr bedauerlich ist, dass das Inhaltsverzeichnis – es ist außerdem unvollständig – nur im 2. Band auftaucht. Dies bedeutet, dass man sich bei der Suche nach einem pädiatrisch relevanten Bereich mit dem Wälzen zweier Bände auseinandersetzen muss. Dies hat zur Folge, dass hier das sicherlich wichtigste Lehr- und Handbuch der Pädiatrie in Deutschland unhandlich ist.

Ehrlicherweise muss aber festgestellt werden, dass dieses einmalige Werk der Pädiatrie in jede Praxis eines Kinder- und Jugendarztes, in jedes Zentrum der Kinderheilkunde und damit in jede Kinderklinik gehört sowie in jedes Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) und jedes Gesundheitsamt, aber auch in alle Ausbildungs­institutionen für Krankenpflege und Therapieverfahren, z. B. Physiotherapie, Ergotherapie etc..

Hat man dieses Handbuch, sollte man bescheiden werden, ob des in diesem Werk erarbeiteten und verstehbar gemachten Fachwissens.



Autor
Prof. Hubertus von Voss
München

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (3) Seite 210-213