Praxiswissen über Phasen und Störungen. Oskar Jenni. 470 Seiten, 198 farbige ­Illustrationen. Springer, Berlin, 2021. ISBN 978-3-662-62447-0; gebunden ­ 59,99 Euro; E-Book 46,99 Euro

Der Zürcher Entwicklungspädiater ­Oskar Jenni, Nachfolger des bekannten Remo M. Largo, hat mit dem Hintergrundwissen der seit 1954 bestehenden Zürcher Längsschnitt-Studie ein umfassendes und aufwendig ausgestattetes Buch über den aktuellen Stand des Wissens zur kindlichen Entwicklung verfasst.

Auf 470 Seiten werden viele Bereiche dieses faszinierenden Themas unter stetiger Berücksichtigung der Vielfalt der kindlichen Eigenschaften und seiner Variabilität abgehandelt. Hauptthemen sind zu Beginn die „Gesetzmäßigkeit der kind­lichen Entwicklung mit ihrer Variabilität als zentralem Faktor“ und die „Bereiche der Entwicklung als Facetten des Kindes“. Danach werden das Säuglingsalter unter dem Aspekt „Kontaktaufnahme mit der Welt“, die frühe Kindheit unter dem Motto „Kind sein dürfen“, das mittlere Kindesalter als „bedeutsamer Übergang“ und die Adoleszenz als „Schritte ins Erwachsenenleben“ besprochen. Den Abschluss bilden 50 Seiten über Störungen der Entwicklung unter dem Motto „mit Unsicherheiten leben“.

Im Nachwort weist der Autor nochmals auf die Problematik des Begriffs „normal“ und die falsche Zielvorstellung hin, „kindliche Defizite müssten beseitigt werden“. Der prägende Faktor des Buches ist die große Vielfalt der Kinder – im Aussehen und im Temperament, in der Intelligenz, den sprachlichen und motorischen Fähigkeiten, der körperlichen Ausdauer, der Emotionalität, dem sozialen Verhalten und vielem mehr. Diese Unterschiede entstehen durch die komplexe Wechselwirkung ­zwischen Genetik und Umwelt – auch in einer bestmöglichen Umgebung bleibt die Variabilität zwischen den Kindern bestehen.

Typische Verhaltensweisen von Kindern werden anhand vieler Fallbeispiele illustriert, aber es gibt keine pauschalen Tipps für das konkrete Vorgehen, da ja jedes Kind und seine Familie anders ist. Unsere Gesellschaft sollte immer versuchen, jedem Kind eine Chancengerechtigkeit zukommen zu lassen. Das ist eine Verantwortung des Staates und die große Aufgabe für alle, die sich als Fachpersonen mit der Entwicklung von Kindern und Jugend­lichen beschäftigen. Dabei sind der sozio-ökonomische Status der Familie und die Ausbildung der Mutter für die Entwicklungsprognose des Kindes von entscheidender Bedeutung.

Sehr illustrativ sind die differenzierten Beschreibungen der Entwicklungsbereiche im mittleren Kindesalter und in der Adoleszenz. Am Ende jedes Kapitels findet sich eine umfangreiche Literaturliste ganz überwiegend von anglo-amerikanischen und Schweizer Autoren.

Trotz des beeindruckenden Materials und der bibliophilen Ausstattung kann der Rezensent einige kritische Anmerkungen nicht unterdrücken:
  • Für wen wurde das Buch geschrieben? Für Laien ist es zu umfangreich und komplex, dem medizinischen und psychologischen Fachpersonal sind viele Aussagen bekannt und die oft sehr einfachen Diagramme geben nur wieder, was bereits im Text steht, viele Aussagen werden mehrfach wiederholt.
  • In den Anfangskapiteln werden meistens Verhaltensweisen von Kindern als Ausdruck der normalen Variabilität beschrieben – wirkliche Entwicklungsstörungen werden nur auf den letzten 50 Seiten kursorisch mit allgemeinen Aussagen und Tabellen abgehandelt.
  • Spezifische klinische Symptome bei verschiedenen Ursachen von Entwicklungsstörungen werden nicht vorgestellt. ADHS wird wie der Autismus als eine Spektrumstörung definiert.
  • Diagnostische Kriterien, z. B. die multiaxiale Klassifikation für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter, die mehrdimensionale Bereichsdiagnostik in der Sozialpädiatrie oder die internationale Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY) der WHO, werden nur am Rande erwähnt und im Stichwortverzeichnis nicht aufgeführt.
  • Konkrete Fördermaßnahmen bei Entwicklungsstörungen werden nur auf knapp 1 Seite abgehandelt.
  • Die Illustrationen sind z. T. aufwendig gestaltet, aber es fehlen Originalbefunde, z. B. Abbildungen von Kindern mit typischen äußeren Merkmalen (so schwer das unter Datenschutz-Bestimmungen auch sein mag), von MRT- oder EEG-Befunden.
  • Die Legenden unter den Abbildungen sind ohne die Kenntnis des Textes z. T. schwer verständlich bzw. verwirrend: So wird die „Entwicklung der Plastizität des Gehirns“ anhand der Aktivität langsamer Wellen im EEG-Mapping präsentiert.
  • Die Rolle einer Epilepsie bei Entwicklungsstörungen wird praktisch nicht erwähnt.
  • Bis auf das Schütteltrauma werden keine Misshandlungsfolgen und vor allem nicht der sexuelle Missbrauch als (Mit-)Ursache für Entwicklungsstörungen erwähnt, sondern nur unter dem Begriff „Misfit“ subsummiert.
  • Das Stichwortverzeichnis ist nicht sehr umfangreich, es fehlen fast alle im Text erwähnten Teste und mancher für das Verständnis von Entwicklung wichtige Begriff.
  • Bei den Literaturangaben (z. B. zum CHC-Modell der Intelligenzbestimmung) werden veraltete Publikationen angeführt.

Es ist das Verdienst des Autors, viele Aspekte aus der enormen Fülle von Daten und Erfahrungen zur kindlichen Entwicklung zusammengetragen zu haben. Von daher eignet sich das Buch zum Nachlesen über den aktuellen Kenntnisstand bestimmter Bereiche. Aber können wir die kindliche Entwicklung nach dem Studium dieses Buches wirklich „verstehen“, wie es der Titel des Buches suggeriert? Ohne Zweifel können viele Entwicklungsparameter heute besser definiert werden, und wir können vieles erklären, aber die Komplexität des Zusammenspiels der verschiedenen Einflussfaktoren ist mehr als die Summe der einzelnen Bereiche und manche individuelle Entwicklung lässt sich erst im Nachhinein erklären. Was sind wirklich pathogene Faktoren, was sind Parameter, die nachweislich die kindliche Entwicklung fördern. Resilienz ist z. B. im Stichwortverzeichnis nicht aufgeführt. Welche Rolle spielen z. B. die Spiegelneuronen?

Zusammenfassend ist das vorliegende Buch eine wertvolle Zusammenfassung und Ergänzung vieler bisheriger Publikationen zur kindlichen Entwicklung und eignet sich zum Nachschlagen dieses faszinierenden Phänomens, aber es kann auch nicht alle Fragen zum Wunder der menschlichen Entwicklung und seiner möglichen Störfaktoren beantworten.



Autor
Prof. i. R. Dr. Hans Michael Straßburg, Gerbrunn
In der Print-Ausgabe wurde versehentlich Prof. Dr. med. Harald Bode, Ulm, als Rezensent/Autor angegeben.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (2) Seite 144-145