Hans Michael Straßburg: Die Geschichte der Sozialpädiatrie. Kindheit – Gesellschaft – Medizin. 1. Auflage 2022, 224 Seiten, Schmidt-Römhild-Verlag Lübeck. ISBN 978-3-7950-1940-2; 36,- Euro

Ist die Historie der Sozialpädiatrie für die heutige Generation nicht eigentlich Schnee von gestern? Keineswegs! Das von Professor Hans-Michael Straßburg im Schmidt-Römhild-Verlag herausgegebene Buch "Die Geschichte der Sozialpädiatrie" ist lehrreich, spannend und aktuell und müsste eigentlich auf dem Tisch jedes Sozialpädiaters einen festen Platz haben! Und das gleich aus mehreren Gründen.

So stößt man in dem Buch mit der Überschrift "Kinder – Gesellschaft – Medizin" immer wieder auf viele berühmte Pädiater-Namen, von denen man schon immer mal wissen wollte, welche Bedeutung sie für die Entwicklung der Sozialpädiatrie eigentlich hatten. Wie zum Beispiel den im Jahr 1929 geborenen und 2020 verstorbenen Kinder- und Jugendarzt Eduard Seidler, der schon mit der überraschenden Erkenntnis aufwartete, dass die Kindermedizin zum Ende des 19. Jahrhunderts praktisch ausschließlich eine "soziale Pädiatrie" gewesen sei. Dazu passt auch die Aussage von Stefan Engel, von dem die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) alle 2 Jahre ihren renommierten wissenschaftlichen Preis vergibt, aus dem Jahr 1927: "Jeder Kinderarzt, der seine Aufgabe voll erfasst, muss gleichzeitig Sozialarzt sein".

Straßburg setzt aber im ersten Teil seines Buches mit dem historischen Rückblick deutlich früher an. Und zwar schon im Altertum, in der die soziale Lebenswelt des Kindes insbesondere mit Beispielen aus der Kunst verbunden wird. Hiermit gehen erste sozialpädiatrische Denkansätze einher, sowohl hinsichtlich der generellen Förderung von Entwicklung bei Kindern als auch in Bezug auf Maßnahmen der Prävention, insbesondere zur Reduktion der extrem hohen Sterblichkeit im Säuglings- und Kleinkindalter infolge von Infektionskrankheiten, mangelnder Hygiene und Fehlernährung.

Der Erkenntnisgewinn aus dem Buch ist hoch. So erinnert der Kinderarzt Friedrich Manz etwa daran, dass Deutschland bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eigentlich zunächst ein kinderfreundliches Land war. Zugleich zeigt er aber auf, dass sich durch die zunehmende Verstädterung und Proletarisierung in der folgenden Zeitepoche die Situation vieler Kinder mit der Zeit verschlechtert hat. Man habe im Laufe der Entwicklung vor allem die Individualität des Säuglings und die zentrale Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung – heute würde man dies eher Eltern-Kind-Beziehung nennen – für die Entwicklung dramatisch verkannt und so sei ein "beschämendes Zerrbild des Säuglings" entstanden. Welche Zerrbilder das genau waren, allein deshalb lohnt es sich schon, in dem Buch herumzustöbern. Wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen die meisten Kinder auf diese Weise bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aufwachsen mussten, erstaunt es schon, wie viele Kinder doch diese Zeit überstanden haben.

Der Prozess hin zur allmählichen Etablierung einer auf die kindlichen Belange fokussierten Medizin mit der Gründung erster Betreuungseinrichtungen und klinischen Abteilungen, woraus sich dann die eigentliche Kinderheilkunde mit all ihren Facetten differenziert hat, war zäh und beschwerlich. Hierzu zählt auch der medizinische Umgang mit neurologisch Kranken und behinderten Kindern.

Dabei gab es immer wieder gewaltige Rückschläge. Besonders ausführlich wird das Schicksal der jüdischen Kinderärzte ab 1933 behandelt. Ebenso erfahren die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nationalsozialismus mit der Ermordung von Kindern und Erwachsenen mit Behinderung eine sehr angemessene Darstellung. Daran knüpft der Neubeginn nach 1945 an – mit einem Extrakapitel zu den sozialpädiatrischen Aktivitäten in der DDR – bis hin zur "Konsolidierung" der Sozialpädiatrie bis heute. Dies wird auch mit Namen bedeutender Sozialpädiater verknüpft – Hans Georg Schlack, Hubertus von Voss oder Harald Bode beispielsweise.

Dabei stößt man in dem Buch in jedem Kapitel immer wieder auf neue Überraschungen: Wussten Sie etwa, dass der in Deutschland für das Thema dieses Buches verwendete Begriff "Sozialpädiatrie" erst in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem durch Theodor Hellbrügge, Kurt Hartung und Johannes Pechstein geprägt wurde? Allerdings interpretierten sie die "soziale Pädiatrie" ganz anders als die heute insbesondere von der DGSPJ definierte und gelebte Sozialpädiatrie. Dieser Prozess wird jedoch von Straßburg weder mit Häme noch von oben herab beschrieben, sondern sehr gut in den zeitlichen Kontext eingebettet, der in den 50- und 60er-Jahren eben den Zeitgeist widergespiegelt hat und somit auch prägend für die soziale Pädiatrie war.

Zum Glück spart das Buch mit seinem historischen Fokus nicht ganz die "neuen Morbiditäten" aus, mit denen heute die soziale Pädiatrie als wissenschaftliches Fach und auch als praktische Pädiatrie tagtäglich konfrontiert wird. Neben den auch schon historisch bekannten Entwicklungsstörungen, Behinderungen und chronischen Krankheiten spielen heute – früher in dieser Dimension kaum oder gänzlich unbekannte – neue Krankheitssymptome wie ADHS oder Lernstörungen die dominierende Rolle. Oder auch – brandaktuell – die zum Teil langwierigen Folgeerkrankungen nach einer Corona-Infektion in Form von Post- oder Long-COVID-Syndrom auch bei Kindern. Etwas knapp wird auf die aktuelle Situation der Sozialpädiatrie und der Sozialpädiatrischen Zentren – insbesondere in den vergangenen 10 Jahren – eingegangen. Hier hätte man sich schon mehr Ausführlichkeit und Aktualität gerade auch im Kontext zu früheren Entwicklungen gewünscht und daraus ableitend auch mehr Verbesserungsvorschläge.

Insgesamt aber hat Hans-Michael Straßburg Fakten, Trends und Erkenntnisse in ein Buch verpackt, das nur mit intensiver Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung und der (sozial)-pädiatrischen Vergangenheit so entstehen konnte. Das Buch bildet an vielen Stellen geschichtliche Entwicklungen und Abläufe ab, aus denen durchaus Muster für aktuelles und zukünftiges Handeln im Interesse der Kinder – insbesondere derjenigen mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen – abgeleitet werden können. Natürlich können im begrenzten Rahmen eines Buches manche der vielfältigen Entwicklungen keine und nur unvollständig Erwähnung finden.

Dennoch eine große Leistung des Autors! Denn so bleibt vieles in Erinnerung, was ansonsten für nachfolgende Generationen verloren gegangen wäre.

So zum Beispiel auch am Ende die Erkenntnis, dass die (sozial-)pädiatrische Geschichtsschreibung – einschließlich aller Pädiatrie-Preise und -Medaillen – von Männern dominiert werden. Und dass, obwohl die praktische Umsetzung sozialpädiatrischer Tätigkeiten bei der Betreuung von gesunden und kranken Kindern schon immer ganz überwiegend durch Frauen erfolgte und heute auch weiterhin erfolgt. Wäre schön, wenn das nun endlich stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken würde und schon bald tatsächlich Schnee von gestern wäre.



Autor
Raimund Schmid

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (3) Seite 220-221