Inwieweit hat sich das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Pädiatrie verändert? Welche Schwierigkeiten können auftreten und an was ist zu denken? Kinderarzt Stephan H. Nolte beschreibt seine Sicht der Dinge in der Rubrik "Der persönliche Blick".

Die Veränderung der Lebensumstände von Kindern und die Ökonomisierung der Medizin haben weitreichende Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis. Besonders in der Kinderheilkunde sind Einflussnahmen denkbar, da wie in kaum einem anderen Fach die heute so bedeutsame Autonomie des Patienten im Falle eines Kindes durch das mutmaßliche Kindeswohl bestimmt wird, welches auslegungsbedürftig ist, aber meist der Medizin ein unverhältnismäßiges Primat einräumt.

Die Schwierigkeiten der Behandlung eines Kindes ergeben sich, wenn man sich mit der Frage des Behandlungsauftrages beschäftigt, schon im Erstkontakt. Durch die heute häufig komplexeren familiären Situationen müssen wir uns damit auseinandersetzen, ob derjenige, der das Kind dem Arzt vorstellt, überhaupt dazu berechtigt ist und ob Dritte, etwa der ebenfalls sorgeberechtigte, getrennt lebende Vater, oder andere wichtige Bezugspersonen damit einverstanden sind. In jedem Fall ergibt sich die Pflicht, zu dokumentieren, wer das Kind begleitet und ob dieser berechtigt ist, Entscheidungen zu fällen. Die Frage "Wer will was?" ist unbedingt zu stellen, bevor es an das Erstellen eines "Arbeitsbündnisses" gehen kann.

"Doppeltes Arbeitsbündis"

In der Pädiatrie sehen wir regelhaft das Muster eines "doppelten Arbeitsbündnisses": Es geht um die Interessen des Kindes, aber diese können nur wahrgenommen werden, wenn der Sorgeberechtigte/die Eltern das Kind bringen. Es muss gleichzeitig Vertrauen zur Bezugsperson und zum Kind aufgebaut werden. Misslingt das "doppelte Arbeitsbündnis", kann es passieren, dass nicht im Interesse des Kindeswohls, sondern im Interesse Dritter gehandelt wird. Wird einseitig nur das Interesse des Kindes berücksichtigt, werden Eltern das Kind der Behandlung entziehen.

Zudem steht der Therapeut selbst im Spannungsfeld zwischen seinem ärztlichen Selbstverständnis, dem Auftrag der Eltern und den Interessen des Kindes. Besonders relevant ist dies bei Trennungsauseinandersetzungen, wenn drei- und mehrfache Arbeitsbündnisse erstellt werden müssen, aber auch bei ganz banalen klinischen Begegnungen, etwa, wenn die Eltern durch das nächtliche Husten des Kindes "genervt" sind, das Kind selbst aber ungestört schläft. Für wen muss man jetzt den Husten "behandeln"? Oder wenn die Mutter auf eine Blutabnahme drängt, weil das Kind (wahrscheinlich eher der Meinung der Schwiegermutter nach) immer so blass ist und so schlecht isst. Wer ist jetzt hier der Auftraggeber und in wessen Interesse handle ich? Eine Sensibilität gegenüber dem wirklichen Auftraggeber und der damit verbundenen Dynamik – etwa latente Vorwürfe der Oma gegenüber der Schwiegertochter, dass sie das Kind nicht richtig ernährt – muss geschult werden, damit solche Auseinandersetzungen nicht auf dem Rücken des Kindes ausgetragen werden. Über eine solche "Komplizenschaft" müssen wir uns Gedanken machen; etwa durch vorsichtiges Nachfragen, was für Motive und Erwartungen an eine Blutuntersuchung gestellt werden.

Dies bedingt auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis: Wer sind wir eigentlich? Anwalt des Kindes, Anwalt der Familien, Anwalt der "Gesellschaft" (z. B. Epidemiologie), Anwalt der Kostenträger (Wirtschaftlichkeitsgebot), Anwalt der Berufsgruppe oder des akademischen Selbstverständnisses oder nicht zuletzt Anwalt des eigenen "Betriebes"? Diese verschiedenen Rollenverständnisse und -erwartungen führen notgedrungen zu Konflikten. Interessenkonflikte lassen sich nicht vermeiden; sie gehören zum Alltag. Bereits die basalen ethischen Prinzipien führen zu gegensätzlichen Standpunkten, die eine Abwägung notwendig machen: Eigenwohl versus Gemeinwohl, Verteilungsgerechtigkeit, Individuum versus Gesellschaft. Kind versus Eltern, Vater versus Mutter etc.. Diese zu erkennen und sich nicht vereinnahmen zu lassen, ist wesentlicher Teil der Aufgabenerfassung.

Ärzte müssen mit dem grundsätzlichen Interessenskonflikt leben, dass sie von Krankheit und Leid anderer leben. Sie werden nicht für Gesundheit bezahlt, sondern für "Leistungen", die erbracht werden. Die Leistung, jemanden gesund zu erhalten, Krankheit zu vermeiden, wird nicht bezahlt (z. B. die betreuungsintensive Prophylaxe von Frühgeburtlichkeit versus lukrative Frühgeborenenmedizin). Der Begriff "Interessenkonflikt" sollte aber von der rein materiellen Seite erweitert werden auf soziale und intellektuelle Interessenkonflikte.

Ethische Fragen

Der Arzt muss in der Ausbildung und im Alltag ständig moralische Fragen des Gesundheitswesens reflektieren. Er kann diese Pflicht nicht an "die Gesellschaft" delegieren oder sich hinter Leitlinien und Empfehlungen verstecken. Letztere sollen ärztliche Entscheidungen erleichtern, aber nicht vorwegnehmen. Die heutige Tendenz, unser ärztliches Handeln durch bekanntermaßen und nachgewiesen beeinflusste Leitlinien bestimmen zu lassen, kann verhängnisvoll und verantwortungslos sein, zumal es für die wesentlichen Alltagsprobleme nie beweisbare (evidence-based) Leitlinien geben kann. Leitlinien sollen lediglich der Beurteilung ihres Nutzens für den Einzelfall dienen. "Die Erkenntnisse von heute sind die Irrtümer von morgen" kann nicht die resignierte letzte Antwort auf fragwürdige interessengesteuerte Innovationen sein, die nach kurzer Zeit auf dem Müllhaufen der Medizingeschichte landen.

Die derzeit diskutierten 4 Prinzipien der Ethik lauten [1]:
  • Respekt vor der Autonomie (autonomy)
  • Grundsatz des Wohltuns (beneficence)
  • Gebot des Nicht-Schadens (nonmaleficence)
  • Anwaltschaft einer gerechten Verteilung der Ressourcen (justice)

Defensivmedizin

Ärzte machen Dinge, die sie für unnötig, überflüssig oder gar unsinnig halten, weil sie Angst vor gerichtlicher Konsequenz und Unterlassungsvorwürfen haben. Es ist noch nie ein Arzt wegen Übertherapie verklagt worden, sehr oft dagegen wegen Unterlassung. Die jungen Ärzte, die von der Klinik kommen, sind gewohnt "alles" zu machen, sich nicht dem ethischen Prinzip einer Verteilungsgerechtigkeit bei begrenzten Ressourcen unterwerfen zu müssen und das ethische Prinzip des Nicht-Schadens zu missachten. Der Erfahrene kommt mit wenig aus: "Man muss viel wissen, um wenig zu tun" [2].

Umgang mit Zahlen

Unsere medizinisch-naturwissenschaftliche Welt wird von Zahlen geprägt. Nur die durch Studien sowie deren Metanalysen beweisgestützte Medizin ist nach dem derzeitigen Paradigma wissenschaftlich. Zahlen und Statistiken sind allgegenwärtig, aber auch interessengesteuert und manipulierbar [3]. Es ist für den Einzelnen oft undurchschaubar, welche Relevanz Risiken haben (z. B. HPV-Impfung). "Große Zahlen liefern ein statistisch gesehen genaues Ergebnis, von dem man nicht weiß, auf wen es zutrifft, kleine Zahlen liefern ein statistisch gesehen unbrauchbares Ergebnis, von dem man aber besser weiß, auf wen es zutrifft. Schwer zu entscheiden, welche dieser Arten von Unwissen die nutzlosere ist" [4].

Der Arzt muss sich mit dem Begriff "Kindeswohl" auseinandersetzen

Es sind die Sorgeberechtigten, die im Sinne ihrer elterlichen Gewalt das veranlassen dürfen, was nach allgemeiner Übereinkunft dem Wohle des Kindes dient. Hierüber lässt sich, wie wir in Trennungsauseinandersetzungen um das mutmaßliche Kindeswohl immer wieder feststellen, trefflich streiten.

Nach Artikel 6 des Grundgesetzes sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Das gilt zunehmend auch für Gesundheitsfragen, denn durch die Kinderschutzgesetzgebungen des Bundes und der Länder wurde die Verantwortung für das Kindswohl aus dem sozialpolitischen Feld zu einem großen Teil dem Gesundheitswesen zugeschoben, welches dieser Aufgabe weitgehend unvorbereitet und unterfinanziert gegenüber steht.

Was ist das Kindeswohl – "best interest of the child"?

Das "Kindeswohl" ist die zentrale ethische Norm bei allen Entscheidungen, die Kinder und Jugendliche betreffen [5]. Dieser aus dem Familienrecht stammende, aber nicht näher definierte Begriff hat viele Aspekte und einen weiten Interpretationsspielraum. Möglichkeiten der objektiven Definition des Wohls sind bestreitbar, eine gültige inhaltliche Konkretisierung für den medizinischen Bereich kann es nicht geben, weil das Wohl, wenn überhaupt, immer nur für den Einzelfall bestimmbar ist. Hierzu ist ein gesellschaftlicher Diskussionsprozesses notwendig, der unbedingt den Respekt vor der graduell möglichen Zustimmungsfähigkeit der betroffenen Minderjährigen einbeziehen muss, das fordert der Autonomiegedanke der medizinischen Ethik. Das Problem ist – wessen Autonomie? Der Eltern oder des Kindes (etwa bei Impfungen)? Weil die des Kindes noch nicht voll entwickelt ist, muss an seiner Stelle mit dem Ziel seiner mutmaßlichen späteren Selbstbestimmung entschieden werden. Die englische Sprache spricht beim Kindeswohl vom "best interest of the child" und unterscheidet hier "assent", die Zustimmung, von "consent", der Einwilligung. Wenn Kinder auch juristisch gesehen nicht einwilligen können, können sie dennoch altersangemessen zustimmen oder ablehnen.

Pädiatrie: paternalistisch orientiert

In der Medizin hat sich der Paternalismus, außer in Notfallsituationen und in der Pädiatrie, weitgehend überlebt. Davon ausgehend, dass jeder mündige Mensch für sein Tun die Verantwortung selbst trägt, hat das Selbstbestimmungsrecht, die Patientenautonomie, den medizinischen Paternalismus abgelöst. Denn in unserer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ist eine alleinige Entscheidungsverantwortung des Arztes wegen des Selbstbestimmungsprimats, mangels übereinstimmender Wertorientierung und dem Vorhandensein "objektiver Werte" sehr konflikthaft geworden. Heute wird in der Erwachsenenmedizin der Patient als gleichberechtigter Partner gesehen, der freie Arztwahl hat, selbst Einfluss auf die Therapie nimmt und somit selbst über die Behandlung entscheidet. Was die Konsequenzen aus dem Selbstbestimmungsrecht, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und damit dem Tatbestand einer Körperverletzung bei nicht eingewilligten Eingriffen angeht, sind die Juristen den Medizinern weit voraus.

Schwierig und in letzter Konsequenz noch ungeklärt ist die Situation bei prinzipiell nicht einsichts- und einwilligungsfähigen Patienten, wie etwa in der Pädiatrie. Hier liegt die Entscheidungsverantwortung beim Arzt, dessen Aufgabe es ist, die mutmaßlichen Bedürfnisse des Patienten vor dem Hintergrund seiner Wertorientierung sowie seines Umfeldes (Bezugspersonen, Angehörige etc.) zu erfassen. Stellvertretend für diesen werden diagnostische und therapeutische Maßnahmen entschieden, der Patient hat zu kooperieren und wird im Zweifelfall durch Entrechtung – unter Umständen sogar der Eltern oder der Betreuer – dazu veranlasst, bzw. gezwungen. So sind die in der Erwachsenenmedizin präferierten Modelle der gemeinsamen Entscheidungsfindung auf die besondere Situation des Kindes nicht vollständig anwendbar, da neben dem Elternwillen und dem Willen der Ärzte oder "des Systems" das wie immer auch definierte "Kindeswohl" höheres Rechtsgut ist. Das führt dazu, dass die Pädiatrie wie kaum ein anderes Fach heute noch die paternalistische Grundhaltung beibehalten hat: "Wir" wissen, was gut für das Kind ist, und setzen in Extremfällen den Elternwillen mittels des Familiengerichtes außer Kraft. Das kann gut, richtig und notwendig sein – aber eben auch falsch. Die Diskussion um die Zirkumzision hat die Brisanz dieses Themas in die Öffentlichkeit getragen; der gefundene Kompromiss ist faul.

Patientenrechte gestärkt

Eigentlich ist uns auch hier die Gesetzgebung weit voraus: Durch die neue Patientenrechtgesetzgebung (§ 630 e BGB: Aufklärungspflichten) ist unmissverständlich formuliert: "Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können." Dazu muss allerdings der Arzt die Alternativen erst einmal selbst kennen. Damit ist nicht "Alternative Medizin" gemeint, sondern z. B. das Abwägen gegenüber einem operativen oder konservativen Vorgehen, z. B. bei Adenoiden. Die Zweitmeinung wird damit vom Misstrauensantrag zur Regel befördert, und das ist gut so. Bei konsequenter Anwendung und Verinnerlichung der Patientenrechtgesetzgebung kann der ärztlichen Selbstherrlichkeit eine deutliche Grenze gesetzt werden, damit bei den Kindern und Eltern das Gefühl, ausgeliefert zu sein, dem einer vertrauensvollen Zusammenarbeit weicht.

Arztwahl ist Vertrauenssache
  • Im Zeitalter einer ökonomisierten, rationalisierten und durch Leitlinien strukturierten und entindividualisierten Medizin scheint die persönliche Begegnung von Kind, Eltern und Arzt und die Kontinuität einer Beziehung nebensächlich. Dabei ist das entscheidend, was jeder Hilfesuchende erwartet: sich anzuvertrauen, persönlich angenommen werden, und nicht, einem System unentrinnbar ausgeliefert zu sein.
  • Wir werden als Mensch, nicht als Exponent eines komplexen, interessengetragenen Systems gefragt, und bleiben auch nur so glaubwürdig.

Literatur
1. Beauchamp TL, Childress JF (2001) Principles of biomedical ethics. Oxford University Press, Oxford, 57 – 272
2. Renz-Polster H (2011) Man muss in der Geburtshilfe viel wissen, um wenig zu tun. Willibald Pschyrembel (1901 – 1987). Menschenskinder: Plädoyer für eine artgerechte Erziehung. Kösel, München
3. Gigerenzer G (2002) Das Einmaleins der Skepsis: Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin Verlag, Berlin
4. Beck-Bornholdt HP, Dubben HH (2003) Der Schein der Weisen. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 218
5. Stuhlinger M (2005) Das Kindeswohl als zentrale ethische Norm in der Pädiatrie. Zeitschrift für medizinische Ethik 51: 153 – 164


Korrespondenzadresse
Dr. Stephan Heinrich Nolte

Kinder- und Jugendarzt
Alter Kirchhainer Weg 5
35039 Marburg/Lahn
Tel.: 0 64 21/ 16 22 66
Fax: 0 64 21/ 16 22 66


Interessenkonflikt
Der Autor hat keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (1) Seite 51-53