"Denkst du schon, oder arbeitest du noch?" Die Autoren haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe eine Vogelperspektive zur Sozialpädiatrie angestrebt, die das professionelle Handeln und Wirken von oben betrachtet.

Einleitung

Was ist an der Sozialpädiatrie so besonders? Kaum anderswo arbeiten so viele Berufsgruppen so eng und auf Augenhöhe zusammen, kaum anderswo im pädiatrischen System haben wir noch Zeit für den einzelnen Patienten, kaum anderswo ist das Arbeiten so komplex und derart herausfordernd. Wir, die Autoren, sind in Sozialpädiatrischen Zentren tätige Psychologen und Psychotherapeuten und empfinden dies als Privileg und als Auftrag. Wir arbeiten im Spannungsfeld zwischen Kind, Familie und Gesellschaft, da gehören wir auch hin, da wollen wir sein.

Manchmal fragt man sich auch: "Was mache ich da eigentlich?" "Wem nutzt meine Arbeit?" Die vielen Stellungnahmen, Arztbriefe, diagnostischen Empfehlungen, die unser SPZ verlassen, wem dienen sie? Aber auch: Wie viel Zeit habe ich zur Verfügung, um mich meinen Patienten angemessen zu widmen? Kann ich meinem Auftrag genügen? Was ist überhaupt mein Auftrag? Und was ist überhaupt eine Diagnose – ist sie das Ziel meines Handelns, eine Wahrheit über das Kind, ein Mittel, um zu Therapien und Geld zu kommen?

Etablierung der Arbeitsgruppe QuISS

Im Juni 2015 wurde unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) eine Arbeitsgruppe mit dem kryptischen Titel "Qualitätsstandards interdisziplinärer, Systemperspektiven-orientierter Sozialpädiatrie" (mit dem "schöneren" Akronym QuISS) gegründet. Ziel war es, diesen Fragen nachzuspüren, über uns selbst und unser Selbstverständnis nachzudenken, aber auch grundlegende Gedanken und Orientierungen aus dem Altöttinger Papier (Bsp.: Diagnostik und Behandlung im familiären Kontext; ganzheitliche und systemische Sichtweise) sowie dem IVAN-Papier (Zusammenführung von Individual- und Systemperspektive; sozialpädiatrisch erweiterter pathogenetischer Blick; diagnostisch-therapeutischer Prozess für problematische Komplex-Fälle) zu vertiefen und zu konkretisieren. Während eines ersten Treffens der Arbeitsgruppe kam die Idee, zunächst einen "Denkzettel" zu verfassen. Wir möchten damit Kolleginnen und Kollegen aus allen Berufsgruppen in SPZs zum weiteren Nachdenken über unsere tägliche Arbeit einladen. Neue "Elf Gebote" wollen wir damit nicht aufstellen, auch wenn es manchmal danach klingt. Dieser "Denkzettel" lautet:

Glaube nicht an Diagnosen, arbeite damit

Benutze sie als ein Hilfsmittel. Wir führen eine Art "Doppelleben": Auf der einen Seite nutzen wir die Diagnose-Vergabe als nützliche und notwendige Bedingung, um in Versorgungssystemen Hilfen zu bekommen, auf der anderen Seite bleiben wir bemüht, Diagnosen nicht als feststehende Gegebenheiten, Entitäten zu betrachten. Sie sind kein "Teil des Kindes", sondern eine Beschreibung.

Sieh Diagnosen im Kontext des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses

Beispiel: Eine Überweisung ins SPZ muss kritisch gesehen werden, wenn eine ggfs. schon an sich fragwürdige therapeutische Maßnahme durch "Diagnostik" "abgesichert" werden soll. Müssen wir die Überweisung ans SPZ mit einem entsprechenden Diagnostik-Auftrag bearbeiten und "routinemäßig" abwickeln? Eine Folge ist ja, dass das betroffene Kind immer mehr in eine "Diagnostik-Mühle" gerät (vgl. das Schicksal von Max und Moritz). Die historisch und kulturell bedingten Maßstäbe der Entwicklungs-Bewertung von Kindern haben sich gewandelt und sind immer "standardisierter" geworden. Das mittels unserer Messinstrumente erhobene statistisch Durchschnittliche (gleichzeitig auch das scheinbar präzise und quantitativ Ausdrückbare) wurde zum Normalen erhoben; von der statistischen Norm abweichende Messparameter verführen zur Pathologisierung. Wir verlieren die Individualität und geringe Plan- und Steuerbarkeit kindlicher Entwicklung aus dem Auge, mit der Gefahr, die Vielfalt kindlicher Verhaltens- und Erlebensformen zu reduzieren.

Reflektiere deinen Normalitätsbegriff und den der anderen

Engt sich unser Normalitätsbegriff ein? Gibt es eine zunehmende "Intoleranz" gegenüber einem "Anderssein" trotz Inklusion und "Diversity"-Debatten? "Die zunehmenden Möglichkeiten der ‚Vermessung‘ von Entwicklung (Testverfahren zur Messung von Intelligenz, von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, teilweise auch von auditiver, visueller und somatosensorischer Wahrnehmungsverarbeitung u. a.) haben zu Einteilungen in ‚Normalität‘ und ‚Abweichungen von der Norm‘ geführt, die eine Entwicklung, die nicht der oftmals unreflektiert postulierten statistischen ‚Normalität‘ entspricht, als ‚Defizit‘ in das Kind hineinprojizieren" (Qualitätspapier zur Wahrnehmung und zentralen Verarbeitung von Sinnesreizen einschließlich der Wahrnehmungsstörungen; Vorlage des Qualitätszirkels Juni 2016; noch unveröffentlicht). Bedeutet Kindsein automatisch, ein Mensch zu sein, der potenziell in seiner Entwicklung als gefährdet zu betrachten ist und dementsprechend beobachtet und ggfs. gefördert und therapiert werden muss?

Hinterfrage, ob das Kind an die Umwelt angepasst werden sollte oder die Umwelt an das Kind

Konsequent gedacht müssten Fördermaßnahmen für das soziale und gesellschaftliche Umfeld formuliert und empfohlen werden, statt für das Kind (dies ist auch im Sinne der ICF-CY, die wir in zunehmendem Maße umsetzen werden). Ursachen für Entwicklungsdefizite werden vorschnell (?) ins Kind bzw. in die Qualität der Betreuungs- und Förderungsleistung der Eltern gelegt. Ist eine solche "Ätiologie" ausreichend? Ebenso ist aktuell ein ergänzender gesellschaftlicher Prozess zu verzeichnen, der medizinische Leistungen weniger unter dem Aspekt der Reduktion körperlich-seelischen Leidens betrachtet, sondern immer stärker im Hinblick auf Optimierungsprozesse kindlicher Entwicklung. Spielen wir in unserer sozialpädiatrischen Arbeit hierbei mit?

Mache vorhandene Konflikte sichtbar, provoziere

Veränderungen geschehen am wahrscheinlichsten aus Übergängen heraus, aus Zuständen von Unsicherheit. Nutze Konflikte, um dosiert Unsicherheit zu erzeugen und Veränderung zu ermöglichen.

Lebe Unsicherheit und sorge dafür, dass andere Unsicherheit leben können

Sicherheit am vorläufigen Ende eines diagnostischen Prozesses kann auch bedeuten, dass ich mich mit meinem Anliegen gut aufgehoben erlebe, weil auch mit Unsicherheiten der Familie wie des Diagnostikers sorgsam umgegangen wird und Kind/Familie sich mit den Professionellen gemeinsam auf den weiteren Weg der Krankheitsbewältigung machen. Nutze daher die interdisziplinäre Qualität sozialpädiatrischen Vorgehens. Sie kann besser mit (diagnostischer) Unsicherheit umgehen und praktische und ethische Aspekte in die klinische Beurteilung des Einzelfalls einfließen lassen. Diese sozialpädiatrische Qualität kostet Geld.

Sei bei all dem transparent und stelle dir die Frage nach den Konsequenzen deines professionellen Tuns

Keine "Geheimnisse"! Wenn wir offen machen, was wir tun und warum, stellt dies Vertrauen her, auch wenn es in einem ersten Moment unangenehm sein kann.

Missbrauche deine (diagnostizierende) Macht nicht, sondern reflektiere und nutze sie demütig

Meine Macht beruht auf meinem Expertentum. Dies gibt mir aber auch und vor allem Verantwortung. Und manchmal die Möglichkeit, Dinge zu erreichen, die andere (z. B. Eltern) nicht erreichen können.

Arbeite realistisch und pragmatisch

Manches geht, manches geht nicht. Dessen sollte man sich immer bewusst sein. Lösungen, die nicht umsetzbar sind, sind nutzlos, manchmal schädlich. Erfolgreiche kleine Schritte, die tatsächlich stattfinden, sind besser als der große Wurf, der an der Realität scheitert.

Denke multisystemisch

"Der Pädiater ist grundsätzlich ein integrativ denkender Mensch, sonst kann er seinen Beruf gar nicht ausüben. In der Pädiatrie geht es um ein multiperspektivisches Sehen von Ganzheiten. […] Die Pädiatrie braucht multikontextuelles Verstehen, das Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit zulässt, sie braucht ein Denken in Komplexität" [1]. Dies gilt nicht nur für Pädiater, sondern für alle in der Sozialpädiatrie tätigen Berufsgruppen.

Psychohygiene: Erkenne deine Grenzen

Wir können nicht gut für unsere Patienten sein, wenn wir nicht auf uns selber achten.

Fazit

Mit Diagnosen haben wir viel Übung. In unserer Arbeit erstellen wir sie täglich über andere. Warum nicht einmal unsere Kompetenz, Diagnosen zu stellen und Empfehlungen abzuleiten, auf uns selbst anwenden? Das haben wir in der Arbeitsgruppe QuISS versucht. Wir haben eine "Vogel-Perspektive" zur Sozialpädiatrie angestrebt, die unser professionelles Handeln und Wirken mit seinen Interessen, Fallstricken und Konsequenzen für Patienten und für uns betrachtet.

Wir werfen eher Fragen auf, als dass wir sie beantworten. In erster Linie wollten wir ein Abgleiten in gedankenlose Routinen und ein "treiben lassen" im Strom der gesellschaftlichen Entwicklungen verhindern. Uns ist bewusst, dass es einen Grund dafür gibt, dass solche komplexen Probleme und Fragen nicht einfach zu lösen sind: Es gibt diese einfachen Lösungen nicht.


Literatur:
1. Maio G (2016) Von der Umwertung der Werte in einer ökonomisierten Pädiatrie. Kinder- und Jugendarzt 47: 846 – 852


Autoren

Uta Ungermann¹, Lucie Ohlemann¹, Manfred Mickley² | ¹Kinderhospital Osnabrück am Schölerberg, Zentrum für Entwicklung und seelische Gesundheit; ²Universitätsmedizin Rostock, Kinder- und Jugendklinik, Sozialpädiatrisches Zentrum


Korrespondenzadresse
Dipl.-Psychologe Manfred Mickley

Ernst-Heydemann-Straße 8
18057 Rostock
Tel.: 03 81/4 94 72 30,

Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor gibt für sich
und seine Koautorinnen an, dass kein Interessenkonflikt in Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (1) Seite 49-53