Vor gut 50 Jahren, am 24. Februar 1974 verstarb in Haifa der Mitbegründer der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis (KiPra), Erich Nassau. Er war einer der vielen bekannten jüdischen Pädiater, die im Nationalsozialismus vertrieben und anschließend vergessen wurden.

Erich Nassau wurde am 25. 07. 1888 in Reichenbach in Schlesien geboren. Nach dem Studium der Medizin in Berlin, Freiburg und Heidelberg promovierte er in Heidelberg und begann die pädiatrische Ausbildung an der Medizinischen Akademie Düsseldorf unter Arthur Schlossmann (1867 – 1932). Anschließend nahm er am Ersten Weltkrieg teil. Er heiratete Toni, geb. Stern (1886 – 1980), und bekam 1917 Zwillinge, die im Krieg in Hildesheim geboren wurden. 1919 bis 1926 war er zunächst Assistent, dann Oberarzt am Waisenhaus und Kinder-Asyl der Stadt Berlin unter Heinrich Finkelstein (1865 – 1942, konnte 1939 noch emigrieren) und Ludwig Ferdinand Meyer (1879 – 1954, Emigration nach Palästina 1935). Von 1926 bis zu seiner Entlassung aus dem öffentlichen Dienst 1933 war er Direktor des städtischen Kindererholungsheims Borgsdorf bei Berlin und der Heilstätte für rachitische Kinder der Stadt Berlin, Bezirk Friedrichshain.

1930 begründete er mit Stefan Engel, mit dem er verwandt war, die Zeitschrift "Kinderärztliche Praxis". Nach seiner Entlassung aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung führte er eine Privatpraxis in Berlin und arbeitete in einer bescheidenen Ambulanz des jüdischen Krankenhauses. Der Redaktion der Kinderärztlichen Praxis gehörte er bis 1934 an und verschwand dann aus dem Impressum. In der regelmäßigen Rubrik "Tagesgeschichte" wird sein Weggang und der seiner jüdischen Kollegen mit keinem Wort erwähnt.

Nassaus wissenschaftliche Schwerpunkte waren die Rachitis, die Ernährung und der Stoffwechsel. 1926 veröffentlichte er eine ausführliche Arbeit über die Säuglingspneumonie [1]. Mit L. F. Meyer war er Autor eines verbreiteten Standardwerkes zur Säuglingsernährung [2]. Aus seinen zahlreichen Veröffentlichungen sticht ein Bilderbuch heraus: "Die bunte Welt", gezeichnet von Waisenkindern der Stadt Berlin [3].

Nassau war Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde. Am 26. 03. 1935 schrieb er an den damaligen Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Fritz Goebel, Halle (1888 – 1950): "Das Zeitgeschehen hat manchem Kollegen, darunter auch mir, es praktisch unmöglich gemacht, an den Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde teilzunehmen. Diese Veränderungen gehören zu denen, die ich schmerzhaft erlebe. Eine aktive Mitgliedschaft […] erschien mir seitdem kaum sinnvoll. Es bleibt mir daher kaum etwas anderes übrig, als es ihnen anheim zu stellen, meine Mitgliedschaft zu suspendieren oder mich endgültig aus der Mitgliederliste der Gesellschaft zu streichen." Am 05. 04. 1935 trat er endgültig aus der deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde aus. 1936 konnte die Tochter Gertrud nach Großbritannien auswandern. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde er, wie auch sein Sohn Gerald, der später darüber berichtete [4], im KZ Sachsenhausen in Schutzhaft genommen. Mit dem Versprechen der Emigration nach Palästina und der Annahme eines bereits vorher erfolgten Angebots als Leiter der Kinderabteilung des Central Hospitals der Krankenkasse Kupat Cholim in Afulah wurde er entlassen und emigrierte über Italien. Als Gerhard aus dem KZ zurückkehrte, waren seine Eltern schon in Palästina, sein Vater hatte für ihn über einen befreundeten Arzt die Auswanderung nach Argentinien organisiert.

1941 wurde er in Palästina eingebürgert. Er arbeitete an der Kinderabteilung des Arbeiterkrankenhauses in Afula [5] und weiter auch wissenschaftlich: Im März 1945 veröffentlichte er mit seinen Mitarbeitern Deutsch und Goldmann eine Arbeit, in der die ersten positiven Erfahrungen mit dem Einsatz von Sulfonamiden bei akuten Durchfallerkrankungen im Säuglingsalter beschrieben wurden [6]. Mit L. F. Meyer schrieb Nassau eine vollständig überarbeitete Neuauflage der "Physiologie und Pathologie der Säuglingsernährung" (Karger, Basel 1953), die auch auf Englisch [7] und Spanisch erschien, sowie eine Anzahl grundlegender Veröffentlichungen über Kindergesundheit auf Hebräisch, wie Giddul Banim (Kindererziehung) Tel Aviv, 1951, Derech le Chaim (Weg ins Leben) 1963.

1948 erscheint die KiPra wieder. Der neue Herausgeber Karl Klinke, Berlin, betont, dass man den Zielen der Gründer Engel und Nassau treu bleibe. Ab 1954 heißt es nurmehr: "Begründet von Stefan Engel, London". Erich Nassau existiert für seine Zeitschrift nicht mehr.

Als er 1949 gefragt wurde, ob er wieder in die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde eintreten würde, schrieb er an den immer noch schriftführenden Goebel, inzwischen Rektor der Medizinischen Akademie Düsseldorf und Lehrstuhlinhaber für Pädiatrie: "Mit der Kinderheilkunde Deutschlands werde ich durch Erinnerungen an meine Lehrer, Schlossmann, Finkelstein und L. F. Meyer stets verbunden bleiben. Von der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde wurde ich vor 15 Jahren ausgeschlossen. Damit wurden viele Bindungen gelöst, die sich nicht mehr knüpfen lassen. Es erscheint mir zudem zweifelhaft, ob der Wiedereintritt eines Bürgers des Staates Israel von allen Mitgliedern der Gesellschaft gutgeheißen würde. So sehr ich an die Aufrichtigkeit ihrer freundlichen Einladung glaube, so ist es mir doch unmöglich, ihr Folge zu leisten. Ich zweifle nicht, dass Sie diesen Entschluss würdigen und verstehen werden. […]" [8].

© jfc.org/ Screenshot: MedTriX
Erich Nassau 1952 bei der Einweihung eines neuen Flügels für die Kinderabteilung in Afula (Israel). Das Bild zeigt eine Szene aus dem Film: https://jfc.org.il/news_journal/27640-2/91758-2/ [5].

Einen Ruf an die Hebräische Universität Jerusalem lehnte er 1959 ab, er habe in Afulah noch zu viel zu tun. Nach Eintritt seines Ruhestandes dort zog er 1963, 75 Jahre alt, nach Haifa, wo er eine nach ihm benannte Tagesklinik für spastisch gelähmte Kinder gründete [9].

Das Grab der Eheleute Nassau liegt auf dem Sde Yehoshua (Kfar Samir) Friedhof in Haifa, Israel. Die Tochter Gertrud, vh. Sacker, verstarb 2014 in England, der Sohn Gerhard, Gerardo, wie er sich nun nannte, zog nach mehreren Jahren in Argentinien nach Israel, um in der Nähe seiner Eltern zu sein. Er starb 1997 in Haifa. Der argentinische Pädiater Alberto Chattás (1908 – 2003) veröffentlichte eine Laudation zu Nassaus 75. Geburtstag, die in den Annales paediatrici, internationaler Nachfolgetitel des Jahrbuchs für Kinderheilkunde, erschien und einiges Persönliches enthält [10].

Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist es angemessen, dieses mit der KiPra besonders verbundenen Pädiaters zu gedenken und die Erinnerung an den Exodus der einst bedeutenden deutschen Pädiatrie im Nationalsozialismus wachzuhalten.


Literatur
1. Nassau E (1926) Die Klinik der Säuglingspneumonie. Z Kinder-Heilk 41: 413 – 465
2. Meyer LF, Nassau E (1930) Die Säuglingsernährung, eine Anleitung für Ärzte und Studierende. Bergmann, München
3. Nassau E, Lange L (Hrsg.) (1926) Die bunte Welt. Zum 25-jährigen Bestehen des Kinder-Asyles der Stadt Berlin. Mosse, Berlin
4. https://blog.ehri-project.eu/2017/08/21/in-the-country-of-numbers-gerardo-nassaus-unpublished-memoir-of-sachsenhausen/ (19.11.2024)
5. Es gibt einen kurzen Film, in dem er im Zuge der Einweihung eines neuen Flügels für die Kinderabteilung in Afula zu sehen ist: https://jfc.org.il/news_journal/27640-2/91758-2/
6. Deutsch J, Goldmann A, Nassau E (1945) Über den derzeitigen Stand der Behandlung akuter Ernährungsstörungen im frühen Kindesalter. Annales Paediatrici 164: 129 – 144
7. Meyer LF, Nassau E (Hrsg.) (1955) Physiology and pathology of infant nutrition. Completely revised 2. ed., Charles C. Thomas, Springfield Illinois; Blackwell Scientific Publications, Oxford
8. Zitate und wesentliche biographische Details aus: Seidler E (Hrsg.) (2007) Jüdische Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet. Geflohen. Ermordet. Karger, Freiburg, S. 180 – 182
9. Röder W, Strauss A (Hrsg) (1983) Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. K. G. Saur, München New York London Paris, Bd. 2, S. 844
10. Chattás A (1963) On Erich Nassau‘s Life. Annales Paediatrici 201 (1) 1 – 3
Autor:
© Angelika Zinzow
Dr. med. Stephan H. Nolte
Marburg/Lahn



Zur Person:
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte war 30 Jahre in Marburg als ­Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Uni­versität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 10 ­Enkelkinder.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (1) Seite 54-57