Wie benachteiligte Familien in der Pandemie allein gelassen werden. Ein Blick auf die aktuelle Situation und die daraus entstehenden zukünftigen Herausforderungen für Sozialpädatrische Zentren (SPZ) und andere Einrichtungen.
Im Alltag vieler Kinder und Jugendlicher mit Entwicklungsstörungen und chronischen Erkrankungen sind im Lockdown als Folge der Corona-Pandemie strukturierende und stabilisierende Elemente weggefallen. Diese vorwiegend in der Kita, in Schulen sowie in Werkstätten stattfindenden Begegnungen sind für die Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen mit besonderem Bedarf maßgeblich. Finden diese nicht mehr oder nur noch stark reduziert statt, kann die individuelle Teilhabe dieser Kinder und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben gefährdet sein.
In den 160 Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) in Deutschland werden solche Kinder und Jugendlichen in der Regel behandelt. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen konnte auch in Pandemiezeiten dort betreut und behandelt werden, wenn auch zum Teil nur mit Telefon- und Videosprechstunden. Weiterhin gelang es zum Teil, durchaus praktikable individuelle Lösungen für Kinder zu finden, indem sich zum Beispiel Fachkräfte aus der Eingliederungs- oder Jugendhilfe intensiv um einzelne entwicklungsgefährdete Kinder und Jugendliche kümmerten. Hilfreich waren zudem auch die Aktivitäten von Lehrern und Erziehern, die immer wieder neue kreative und dem Infektionsgeschehen angepasste Konzepte entwickelt und umgesetzt haben.
Dies waren aber individuelle Insellösungen, die nicht die aktuelle Situation, in der sich viele Familien mit ihren behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen befinden, widerspiegeln, wie folgendes Beispiel zeigt:
Sozialpädiatrische Zentren haben in der Krise trotz aller erschwerter Umstände ein hohes Maß an Flexibilität und Kreativität gezeigt, um das interdisziplinäre Behandlungsangebot den Patienten, deren Familien und Bezugspersonen weiter zu ermöglichen und als Ansprechpartner für krisenhafte Entwicklungen zur Verfügung zu stehen.
Weg in die "Normalität" wird sehr weit sein
Trotzdem ist zu erwarten, dass sich bei vielen Patienten – wie bei Paul – unter den aktuellen Bedingungen dysfunktionale adaptive Verhaltensweisen, Rückschritte und Krisen entwickelt haben, die auch bei einer Rückkehr zur Normalität nicht einfach verschwinden, sondern in Zukunft einen erheblichen zusätzlichen Behandlungsaufwand erfordern werden.
Bereits im Mai 2020 hatte daher die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) Denkanstöße zur Wiederöffnung von außerfamiliärer und außerschulischer Betreuung verabschiedet. Ende Februar 2021 wurde dann die AWMF-S3-Leitlinie "Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen" veröffentlicht – eine lebende Leitlinie. Somit liegt nun erstmals eine gute strategische Grundlage für die Öffnung aller Schulen vor.
Die Reintegration in den vorpandemischen Alltag, die Rückkehr in die "Normalität" wird für diese Kinder/Jugendlichen und ihre Familien besondere Herausforderungen mit sich bringen. Es ist absehbar, dass sie sich nicht ohne Weiteres wieder zurechtfinden und die gewohnte, erforderliche Sicherheit und Geborgenheit wiedergewinnen werden. Es bedarf zum einen der Geduld – eine bislang in der Pandemie sehr strapazierte Eigenschaft – und aller Voraussicht einer speziellen Expertise, um die Reintegration voranzubringen und zu katalysieren.
Auf die SPZ kommen große Herausforderungen zu
Hier sind gerade und wieder die SPZ mit ihrer interdisziplinären Arbeitsweise gefragt. Sie können an die in der meist längerfristigen Betreuung und Begleitung gewonnenen besonderen Kenntnisse und Bedürfnisse (special needs), die Vertrautheit mit individuellen Problemlagen und an das Vertrauen der Familie professionell ansetzen. Dafür müssen sie aber auch in Zukunft personell und finanziell entsprechend ausgestattet werden.
Begleitende und unterstützende Hilfen können zudem durch den kommunalen Kinder- und Jugendgesundheitsdienst am Gesundheitsamt gebahnt und vermittelt werden. Dieser wiederum verfügt über entsprechende Netzwerkstrukturen und Kenntnis der Grenzen und Möglichkeiten der Einrichtungen und Unterstützungssysteme vor Ort. Dazu zählen vor allem Frühe Hilfen, familienunterstützende Dienste, Selbsthilfestrukturen, Integrationsdienste, Fachstellen Schulberatung, Maßnahmen zur Inklusion und Teilhabeunterstützung sowie Schuleingangsklassen.
Fazit
Nur eine intensivierte und zielgerichtete Kooperation zwischen spezialisierter Gesundheitsversorgung in den SPZ und den Systemen der kommunalen Daseinsfürsorge wird den Kindern und Familien auf Dauer nutzen. In der längeren Perspektive nach der Pandemie wäre sie über die individuelle Ebene hinaus gerade auch systemisch sinnvoll und unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit dringend notwendig.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (3) Seite 196-197